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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Herzschlägen an den eigenen Rand bringt, die innere Kante, hinter der die Auflösung aller Standpunkte oder Haltungen anfängt. Ich erinnere mich, dass er mir schon nach dem ersten Anschwellen der Stimme zugenickt hat, im Sinne von Kopf hoch, und die Musik vor dem Ende abstellte; sie muss ihn so getroffen haben wie mich, nur ließ er sich nichts anmerken, außer seinem Argwohn gegenüber Gefühlen und allen Kommentaren dazu (während ich vermutlich Wunderbar oder etwas Ähnliches vor mich hingemurmelt hatte). Es war der Höhepunkt dieses einen Besuchs und überhaupt ein Höhepunkt, indem der Besuchte es nicht darauf anlegte, dass ich seinen Mangel an Ausdruck von Gefühl mit einem Mangel an Gefühl verwechselte. Bei den Wölfen, sagte M., als eine Zigarette, die seit Auflegen der Platte in seinem Mund war, endlich brannte, hätte er fast mitgeheult. Und dann kam er auf Berliner Straßenhunde, die ihn rührten, und seinen alten Wunsch nach einem Tier, den er sich aus Tierliebe nicht erfüllen könne; ruhig und klug legte er die Unlösbarkeit dieses Problems dar, stellvertretend für alles andere Unlösbare, vom nicht mehr Rauchen bis zum endlich Weinenwollen. Inzwischen war es hell geworden, und nachdem ich mich auf seinem Balkon gestreckt hatte, zeigte er mir den Rest der Wohnung, Zimmer voller Fotos und Bilder, darunter auch ein Bild, das ich ihm in den Jahren meines Malens zwischen zwanzig und sechsundzwanzig geschenkt hatte, eine Wasserfläche mit Wald im Hintergrund und am Himmel, schwebend, ein Ei. Er dankte mir noch einmal für das Bild, vielleicht weil es etwas von seinem versteckten See, der ja auch ein inneres Wasser war, vorweggenommen hatte. Danach war mein Besuch beendet, ich musste oder wollte zum Zug, und er fuhr mich zum Bahnhof Zoo und erzählte unterwegs wieder von Polen, bis ich das Gefühl bekam, dass er womöglich nie dort war und die Fotos woanders gemacht hatte.
    Eine kalte Nacht in Warschau, die Hoteldecke viel zu dünn. Und beim Frühstück, umgeben von Geschäftemachern (weiße Socken, Ringelhaar), ist die laute Musik ein Segen. Zweiter Segen: Die Polinnen, die sich mit den Geschäftemachern treffen, als Dolmetscherinnen oder weil sie selbst Geschäfte machen, Frauen, die mit ganz anderen Bewegungen auf einen der Tische zustreben oder ans Buffet gehen, als ihre deutschen Kolleginnen, die alle den Fitness-Gang haben, mit schlenkernden Muskeln, um schon morgens ihren Körper zu fühlen. Die Polinnen dagegen: fließend, Hüften statt Beine betonend; sie fühlen den Körper, indem sie ihn zeigen, und zeigen ihn dennoch zurückhaltend, selbstbewusst keusch.
    Lange Taxifahrt durch die Stadt, vorbei am Kulturpalast; in dessen Schatten ein Leben in zweiter Reihe, Kioske und Shops aller Art, provisorisch, bunt, reizvoll – Dinge, die man zu kennen glaubt, aber am fremdesten ist ja oft die Fremde, die auf den ersten Blick nicht fremd erscheint. Und dann endlich die polnischen Teilnehmer des Seminars in einem etwas bedrückenden Fakultätsraum, Schultoilettenbeleuchtung; fünf junge Frauen und zwei junge Männer, die im Großen und Ganzen so aussehen wie junge Leute bei uns, dann aber ihre Beiträge in einem einfachen und originellen Deutsch vorlesen, die mit jeder Zeile überraschen. Den Anfang macht Marcin mit der Geschichte von einem Wanderer, der einen Kuss am Wegrand findet, ihn vorsichtig aufhebt und einsteckt. Der Kuss erzählt sofort von seinem schweren Schicksal und bekommt damit immer mehr Gewicht, so viel, dass der Wanderer ihn schließlich wieder ins Gras legt. Vorschlag an Marcin: Der Wanderer will den Kuss weitergeben, er will ihn verschenken, und was passiert da alles? Wie verhalten sich die Leute, was empfindet der Erzähler? Als nächstes liest eine junge Frau im Mantel, Anna (von einer verhangenen, kaum bestimmbaren, aber auch kaum zu übersehenden Schönheit). Sie trägt nur ein kurzes, altertümliches Fabelgedicht vor, von einer Magd, einem Knecht und einer anderen, die der Knecht küsst, worauf die Magd sich gleich erhängt. Wir gehen es durch, Wort für Wort; am Ende der Rat, das Gedicht zum Ausgangspunkt für etwas Heutiges zu nehmen. Und auch die übrigen Texte umkreisen das Thema Kuss wie eine Beute, von der man nicht weiß, ob sie giftig ist oder einen selbst in die Falle lockt.
    Nach dem Mittagessen in der Professorenmensa ein Telefonat mit zu Hause, und wie immer auf Reisen die Kluft zu den Nächsten; man erzählt dies und das, aber es bringt nichts, und dann winkt auch

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