Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
Vom Netzwerk:
schon Anna mit dem Fabelgedicht, das Seminar geht weiter. Als erste liest Olga, die etwas von der tragischen Magd aus Annas Gedicht hat, sie beginnt mit den Worten: »Den grauen Korridor des Lebens kann nur die Liebe röten.« Eine kleine Geschichte voll großer Sehnsucht, der Kuss in weiter Ferne, wie auch bei den restlichen Beiträgen, aber das Anpeilen dieser Ferne gibt ihnen Kraft und Genauigkeit. Die jungen Polinnen riskieren einiges mit den Worten, die nicht ihre sind, sie überwinden ein Stück Keuschheit; die jungen Männer bringen eher Kränkungen zur Sprache und überwinden ein Stück Stolz. Und der Seminarleiter lernt nebenbei einen polnischen Ausdruck, den es im Deutschen nicht gibt, das Gegenteil von sich verlieben, nämlich sich entlieben, odkochać sie¸. Und abends ein Essen in einem guten Neustadt-Restaurant, zu dem die Veranstalter einladen, ich sitze zwischen Anna und Olga und einer Frau, die etwas zu kurz kam mit ihrer Geschichte, Emilia. Und irgendwie entsteht durch sie im Laufe des Essens das Gerücht von einer Abschiedsparty am kommenden Abend, beim Seminarleiter im Hotel.
    Sich entlieben – M. kannte sich aus in diesem Trennungsverfahren, mit dem eine Selbsttäuschung einhergeht: dass es etwas anderes sei, eine Liebe scheitern zu lassen, als an der Liebe zu scheitern. Seine Trennungen waren immer gewolltes und ungewolltes Scheitern in einem, sie entsprachen der elementaren Zuschauerhaltung in ihm. Auch die Liebe war für ihn ein Schauspiel, mehr unter seiner Regie als mit ihm in einer Rolle; das Regieführen war seine Form der Mitwirkung. Er wollte lieben, aber nicht in die Liebe verwickelt sein, er wollte das Trunkene in nüchterner Form. Die unkontrollierten, lächerlichen Gebärden des Liebens (die es so menschlich und tierisch zugleich machen), übten einen großen Reiz auf ihn aus, nur wollte er damit nicht in Zusammenhang gebracht werden. Einmal saßen wir in seinem Auto vor dem Flughafen Tegel – ich musste nach Zürich, dem Ort, der für uns Bodensee-Internatsschüler das Mekka alles Nächtlichen gewesen war –, und er stellte sich vor, mich zu begleiten und abends nach der Lesung mit zwei Frauen aus dem Publikum durch die Stadt zu ziehen; der letzte Akt dann im Hotelzimmer, er bequem in einem Sessel, während der Freund sich mühte. Es war so eine Idee, aber nicht nur; denn im Grunde seines Herzens oder Kopfes entsandte er für diese Dinge immer einen Doppelgänger, während er selbst zurückgelehnt dasaß, angezogen, rauchend, ein Buch im Schoß, und das Tun im Bett verfolgte, amüsiert und traurig zugleich – der ewige Zuschauer, bei dem die Trennung oder das sich Entlieben schon ein Teil der Betrachtungsweise ist.
    Immer noch Warschau. Morgens ein Gang, um die einbehaltene Nagelschere zu ersetzen. Die Frau im kioskartigen Laden bietet auf eine Manikürgeste hin zunächst einen Zwicker an, dann zeigt sie verschiedene Scheren, und der Kunde entscheidet sich für die teuerste, mit Goldrand, und probiert sie auf der Straße gleich aus, doch es braucht die ganze Kraft einer Hand, um einen Nagel der anderen Hand mehr kleinzukriegen als zu kürzen. Fast beschämt von der Qualität der Schere (als sei sie eine späte Kriegsfolge) besteigt der Gast ein Taxi und fährt wieder durch die Stadt der vielen Denkmäler – und fragt sich, welchem heutigen Geschehen in seiner Heimat künftig ein Denkmal gesetzt werden könnte. Wahrscheinlich keinem; und höchstens diese Schicksalswüste wäre ein Denkmal wert (dem bei aller Erinnerung an die Wüste auch etwas Schönes oder Freundliches zugestanden sein sollte, so hätte M. es verlangt, wie er ja auch, wenn alles Unfreundliche über einen anderen gesagt war, zugeben konnte, dass der Betreffende nettere Seiten besaß als er selbst).
    Die Überraschungen des Schreibens, gern auch für Wunder gehalten: über Nacht sind aus den Anfängen Geschichten geworden. Emilia – sie hatte von einer kompletten WG in einem einzigen Raum zu erzählen versucht, in einer sprachlich vergleichbaren Enge statt Dichte – lässt auf einmal diese Dichte zwischen fünf Personen entstehen und für zwei anschaulich zur Zwangsnähe werden. Und von der Fabel über die Magd, die sich erhängt hat, gibt es einen Sprung zu einer Tankstellenkassierin, die hinter der Kasse eingenickt ist und einen Sekundentraum von dieser Fabel träumt, die sie als Kind jeden Abend aus dem Mund ihrer Großmutter gehört hatte. Ein harter Knall weckt sie auf, ein LKW-Fahrer hat eine Zapfsäule

Weitere Kostenlose Bücher