Eros und Asche
über die Vorzüge des G3, das ich im Geiste, aber auch tatsächlich blind zerlegen konnte, sowie über die Aufsätze von Bloch, die er für mich auseinandernahm.
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Mittags, Flughafen, Doppelkontrolle mit Einbehaltung einer Nagelschere. In der Maschine die FAZ , Büchner-Preis an Oskar Pastior – der Strom der Preise, unberechenbar wie die Lava, die an manchen Häusern vorbeifließt und andere in Brand setzt, eine Sicht, die nicht jeder teilt. Kritiker, sagte M. bei unserem letzten Treffen in einem elenden Schnellcafé neben dem ebenso elenden Sony-Center, wollten Väter oder Mütter des Erfolges sein, Söhne oder Töchter, nicht aber dessen Brüder oder Schwestern. Wir hatten nur eine Stunde in dem Schnellcafé – ich war wegen einer Filmpremiere in Berlin und wollte dort auch hin –, eine Stunde an einem Fenstertisch, ohne zu ahnen, dass es unsere letzte war, und mehr als die Hälfte der Zeit verbrachten wir damit, über Beweggründe von Kritikern und Jurys zu reden. M. hatte noch anderthalb Jahre zu leben, Zeit genug, mit ihm an seinen See zu fahren – von dem zu erzählen er aber erst viel später bereit war –, und Zeit genug, mit ihm nach Lissabon zu fliegen oder gar nach Havanna. Erst zwei Wochen zuvor, als ich ihn von dort anrief, hatte er halb im Spaß und in Form einer Frage – warum ich ihn nicht mitgenommen hätte – diese Havanna-Reise, zu der ihm die Mittel fehlten, gefordert. Aber weder vorher noch nachher je ein Wort zu der schlichten Armut, in der er gesteckt hat. Und so lagen statt Geld zwei meiner Bücher vor ihm, mit Widmungen auf seine Bitte hin: für die Ärzte, die sich zuletzt um ihn gekümmert hatten. Gleich mehrmals dankte er dem schreibenden Freund dafür, und eigentlich wäre er nur gern auf der Stelle mit ihm zum Flughafen gefahren, so wie er aus dem Fenster sah, die Hand mit Zigarette vor dem Mund, der Mittelfingernagel zwischen den Kinnstoppeln. M. wollte nach Havanna, er wollte dort mit mir unter den leeren Colonaden am Malecón, von wo ich ihn angerufen hatte, herumgehen und die mageren Hunde fotografieren. Er wollte etwas erleben mit mir, er wollte überhaupt etwas erleben, er wollte einfach nur leben (hat aber nichts dafür getan); oder hätte gern einfach nur gelebt und etwas er lebt, am besten mit mir – aber man kann natürlich über Tote alles Mögliche sagen.
Warschau. Jemand vom Deutschen Akademischen Austauschdienst, DAAD, holt den Gast, der noch nie in Polen war, am Flughafen ab. Fahrt zum Hotel Ibis (»Alles, was man zum Übernachten braucht«), immerhin in Altstadtnähe, aber auch, wie dem Gast gesagt wird, nahe eines Orts, der noch seinen Namen aus dem Krieg trägt, damals Sammelpunkt der Juden für den Transport, Umschlagplatz . Ein Wort, das ich festhalte, sonst kaum Notizen – das Schauen überwiegt. Ein erster Gang unter Führung von Dr. L., Leiter des DAAD-Büros Warschau, von Denkmal zu Denkmal Richtung Altstadt, das schlechte Gewissen geht mit. Die Altstadt dann langweilig, bis auf den schon wieder einsetzenden Verfall, imponierend nur der damalige Drang, das Zerstörte zurückzuerobern; heute eine Spaßaltstadt und dementsprechend das Essen. Das Erzählseminar, erfährt der Gast, findet in den Räumen der Wirtschaftsfakultät statt, die sieben Teilnehmerinnen und Teilnehmer kämen aus ganz Polen, eher aus der Provinz als aus Städten, und alle mit der erbetenen Seite zum Thema Kuss .
Bei meinem einzigen Besuch in M.s Berliner Dauerwohnung, Goebenstraße sieben, hatte er mir in der Nacht auf einmal penibel geordnete Fotos aus Polen gezeigt, Bilder der masurischen Seen in ihrer Winterstarre, mit einer letzten Sonne auf dem Eis (Bilder, die fünfzehn Jahre später zum Hintergrund für einen Roman über ein entführtes Mädchen wurden). Wir saßen auf einem alten Ledersofa, in einem Raum wie ein Iglu aus Büchern, so gestapelt und gereiht, dass man sich keins herausgriff, aus Sorge, das Ganze könnte wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen; wir tranken seinen schwarzen Kaffee, der in Wo das Meer beginnt wieder auftauchen sollte, wie überhaupt diese gänzlich gestaltete, bernsteinzimmerhafte Zufluchtswohnung, und wir rauchten seine Zigaretten und hörten seine Musik, Chick Corea in diesen Stunden. Und vor uns auf dem Boden die masurischen Seen im Winter – Ich habe die Wölfe gehört, sagte M. irgendwann, mit Tönen wie die Callas in der Arie der Norma. Und dann hörten wir dieses Bellini-Glanzstück, gesungen mit einer Stimme, die einen binnen zwei
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