Eros und Asche
gerammt, ihr erster Gedanke: Wo ist das Bindemittel? Sie rennt nach draußen, und der Unglücksfahrer sagt, er habe sie schlafen sehen, über diesen Anblick die Zapfsäule erwischt. Und gemeinsam versuchen sie, das auslaufende Benzin zu binden, kniend in den Dämpfen, wobei sie sich so nahe kommen, dass sie sich küssen. Anna ist errötet beim Lesen, wie Olgas grauer Korridor, den nur die Liebe in Glut versetzt. Als nächster kommt Marcin mit der Geschichte vom Kuss, der am Wegrand lag. Sein Wanderer versucht jetzt, den Findelkuss in einem ländlichen Kloster abzugeben, vergebens: Die Mönche erheben Einwände aller Art. Also geht der Wanderer in die nächste Stadt und versucht es auf der Straße bei einer jungen Frau, die gleich abwinkt: Sie könne den Kuss nicht nehmen, sie habe sich gerade die Nägel gemacht. Und zu guter Letzt wird er ihn auf einer Polizeiwache los, wo man den zweifelhaften Gesellen gleich einsperrt.
Abends, im Taxi. Am Steuer ein alter Mann, er versteht kein Wort Englisch, er versteht auch kein Deutsch oder will es nicht verstehen. Hotel Ibis, ruft der Fahrgast immer wieder, als der Alte in die falsche Richtung fährt, offenbar mit einem Ziel vor Augen, bis der Ortsfremde begreift, dass es zwei Hotels dieses Namens geben muss, an verschiedenen Enden der Stadt. Und da fällt ihm ein, dass sein Hotel Ibis in der Nähe des Umschlagplatzes liegt – und genau dieser Name bringt mich zum gewünschten Ort, dem auch nichts als sein Name geblieben ist.
Im richtigen Hotel Ibis dann das Champions-League-Finale Barcelona–Arsenal, einziger Mitzuschauer ein Monteur aus Heilbronn, Verpackungsmaschinen; wir halten beide zu Barcelona, auch wenn Lehmann in der Zwanzigsten den Platz räumen muss. Eine Halbzeit lang gedankenloses Schauen bei Bier und Zigaretten, bis plötzlich Olga, Anna und Emilia auftauchen. Sie wollen die Abschiedsparty mit ihrem Seminarleiter feiern, eine Stunde hätten sie Zeit, dann gehe ihr Bus in die Vorstadt, wo man sie untergebracht hat. Und während dieser Partystunde trinken sie je eine keusche Cola, zu der sie sich einladen lassen, und wir reden über die morgen beginnende Warschauer Buchmesse (mit einer Statistenrolle des Autors am Stand des Veranstalters) und den Staatspräsidenten, der sie mit seinem deutschen Kollegen eröffnen soll. Viel länger aber reden wir über die Preise von H&M hier und in Frankfurt sowie die Vorzüge einer Karriere beim Fernsehen, ob in Polen oder Deutschland, gegenüber der literarischen Laufbahn, während Barcelona verdient gewinnt und der Heilbronner Monteur etwas neiderfüllt auf den eindeutig Älteren mit den drei Grazien sieht – die sich auf die Minute pünktlich davonmachen, mit fließenden Bewegungen, als würden sie sich keineswegs nur zu einer Bushaltestelle entfernen.
Die Geschichte dieser Party oder Nacht mit den drei jungen Polinnen, die über Küsse schreiben, zählt zu der Sorte, die zu schön sind, um wahr zu sein. Sie fand statt, und sie fand nicht statt – und müsste also meinerseits neu erfunden oder ausgeschmückt werden, damit sie etwas hermacht. Und damit würde sie zu einer jener Geschichten, die M. in dunklen Andeutungen parat hatte, sobald wir über Frauen sprachen, wie zuletzt im Pressecafé gegenüber vom Bahnhof Zoo, als dieser Bahnhof noch voller Leben war – auf einmal kam da die Andeutung einer vor nicht allzu langer Zeit erlebten Nacht mit zwei Frauen. Ein Jahr konnte das her sein, aber auch fünf Jahre; Zeit war zu diesem Zeitpunkt, Ende der Neunziger, immer noch nichts für ihn, ein Maß wie eine Zigarettenlänge, eine Skala für die Liebe und ihre Augenblicke, nicht aber die Strecke, auf der solche Augenblicke bleiben. Vor dem Anzünden der Zigarette – Kunstpause hinter der Feuerzeugflamme – ließ er seine Andeutung, die sich nur auf die Umstände bezog, vom Stapel, Umstände wie eine Hochhauswohnung, die einer der beiden Frauen gehörte, eine Sammlung von Kissen, die den Boden bedeckte, und der Hintern der zweiten Frau von einem Weiß, dass einem schon abfärbend erscheine; dazu noch der Beruf der ersten Frau, Narkoseschwester, während die zweite einfach nur jung war. Das alles natürlich ein Köder für mich, der Stoff für die von ihm nicht erzählte Geschichte, gleichgültig, wie sie sich abgespielt hatte und ob überhaupt. Und kaum war die Zigarette angezündet, kam er mit etwas ganz anderem, wie es meiner Schwester gehe. Ich aber behielt den Köder samt Haken gleichsam im Maul, die Sache ging mir
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