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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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von antiaufklärerischer deutscher Schuld) für mich keine Bedeutung mehr; selbst die Nähe zu berühmten Toten in der Vorschau zog nicht mehr wie früher.
    Noch am selben Tag rief ich M. an und wollte mit ihm über mein flaues Gefühl reden, weil etwas auseinanderzubrechen drohte, das im Grunde sehr zusammenhaltend war. Aber er hatte an dem Tag sein eigenes Chaos, eher privat als beruflich, und nahm die Geschichte nur zum Anlass für eine seiner Geschichten über Moral und Verrat, über ungeschriebene Gesetze und die Bestrafung jener, die sich nicht daran gehalten hatten. Er erzählte mir von Palermo, wo er vor kurzem gewesen sein wollte, von einer Mafiaschießerei am Stadtrand, mit ihm als Zufallszeugen, einer Schießerei zwischen Getreuen und Abtrünnigen. Meine Geschichte hatte also an seine sizilianische Seite gerührt, eine Seite, die während unserer Internatsjahre immer zu spüren war. Die Gesetze des Schweigens galten für M., das Einzelkind mit Offenbarungsdrang, mehr als alles andere in einer Freundschaft; nichts, was aus diesem Drang heraus gleichsam gegen den eigenen Willen gesagt oder gezeigt wurde, durfte nach außen gelangen, und die mafiose Schweigepflicht oder Omertà war dafür ein stetes Vorbild. Aber Sizilien hatte es ihm auch im Ganzen angetan, von Syracus über Segesta bis Corleone (es gibt ein Schwarzweißfoto, das der erst elfjährige, später auf Schweigen bestehende M. von den dicht gedrängten, wie unter der Mafiaknute geduckten Häusern von Corleone gemacht hat, leicht unscharf, als hätte schon das fotografierende Einzelkind die Wahrheit als verwischte Wahrheit andeuten wollen, dazu ein über allem liegendes und doch nicht fassbares Bangen). Was ich jetzt tun solle, als Autor eines Verlags, der mir nicht mehr viel bedeute, hatte ich ihn mitten in seiner Palermo-Story gefragt, und M. kam nach kurzer Überlegung mit einem schwer zu vergessenden Rat. Nicht darüber nachdenken, sagte er, und mit keinem darüber reden. Schreiben, bis der Tod die Sache regelt.

13
    Fahrt zum unversteckten See – pünktlich um acht zwängen sich vier Jungs, keiner unter einsneunzig, in einen für seine Flachheit bekannten Wagen, und während die Nachrichten melden, dass der Bär von Bayern immer mehr außer Rand und Band gerate, geht es auch schon den Geschehnissen entgegen. Bis Würzburg fährt der Wagenhalter (den die Eltern der anderen Jungs zur Bedingung dieses Trips gemacht haben), dann übernimmt der Sohn, vernünftiger als ich es je war, auch beim Fahren. Die Jungs reden über Autos, Essen, Games, Kleidung, Filme, es geht ihnen gut. Kurz vor München ein Hubschrauber auf der Gegenfahrbahn, an der Leitplanke zwei verkeilte Wracks, auf dem Asphalt ein Mann, halbnackt, bei ihm Sanitäter und Notarzt. Die Jungs sehen nur den Hubschrauber oder wollen nur den Hubschrauber sehen; sie sehen später auch nicht die sich ändernde Landschaft und Architektur (unzählige Male bin ich die Strecke schon gefahren, und immer wieder bewegen mich die Anfänge des Südens, erstmals in Ohne Eifer, ohne Zorn ). Gegen Abend erreichen wir den See, fast schon im Sommerdunst, nur nicht so glatt wie an einem Augustabend. Das Haus steht noch, im Garten blüht alles, besonders der Jasmin mit seinem etwas freizügigen Duft. Und nach dem Essen im Ort das erste Sitzen auf der Terrasse. Die Jungs reden nur noch leise, aber sie lachen ab und zu laut; sie wissen, dass der Erwachsene morgen ins Hotel geht, so wurde es abgemacht. Keiner trinkt einen Wein mit, keiner raucht, über Mädchen wird höchstens am Rande geflüstert. Und plötzlich eine Art Ratespiel: Ob der Typ, der auf der Autobahn lag, wohl noch lebt? Die mehrheitliche Meinung: Er ist tot, trotz Hubschrauber. Vorsichtig, in Nebensätzen, versucht der Ältere aus der Episode ein Thema zu machen; er will auf den Tod seines Freundes und überhaupt auf den Freund kommen. (Ich hätte gern über M. geredet, ich wäre sogar bereit gewesen, die Klostergeschichte zu erzählen, nur um zu hören, wie die Jungs darüber denken.) Aber die vier sind fixer als der Erwachsene mit seinem Anliegen – schon ist das Thema umgelenkt: der Tod als maximaler Verlust von health points bei einem ihrer Games. Und jetzt toben sie, höchst lebendig, im Pool, während ich im oberen Stock am Tisch sitze, schreibend in meinen vier Wänden und letztlich auch nur Gast, mit dauerhaftem Nutzungsrecht.
    Maximaler Verlust von Gesundheitspunkten – Ende Oktober 2002 ist der Vater meines Verlegers und Freundes J.

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