Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
Vom Netzwerk:
Herr konnte die Hand ergreifen oder übersehen und hat sie, als Kompromiss, gestreift. Damals erschien mir die Szene peinlich, ich sah nur den Mangel an Respekt oder Manieren auf der einen Seite und den an Courage auf der anderen, heute sehe ich etwas Drittes. Handke hatte den Bedeutungsschwund aller, die ernsthaft schreiben, wohl schon sehr früh gespürt, und gerade Koeppen war ihm ein Ausdruck dieses Schwunds oder Versagens, warum sollte er ihn also stehend und mit Handschlag begrüßen? Er hat sich dem allgemeinen Schwund des Geistigen und jedem Sichducken in einem immer kleiner werdenden Freiraum entzogen, um dem andererseits, schreibend um sich schlagend, jenseits aller Manieren und taschenspielerischen Aufklärung, auf seine Art Paroli zu bieten. Und eines Tages (kurz vor Ende des alten Jahrhunderts) hatte ich M., als wir durch ein modernes Antiquariat zogen oder eher geisterten, im Flüsterton von dem Abendessen erzählt, worauf er Handkes Nachmittag eines Schriftstellers aus einem der Regale zog; er drängte mich, das schmale Buch zu kaufen und verteidigte den Autor, den er früher oft heruntergemacht hatte, er las mir sogar etwas vor, den Anfang von Kapitel sechs. »Obwohl doch nichts Besonderes sich ereignet hatte, war ihm danach, als habe er für diesen Tag schon genug erlebt – sich das Morgen gesichert.« Mit diesen Zeilen hatte ihm Handke offenbar aus dem Herzen gesprochen, dem müden Herzen, für das ich kein Empfinden besaß; und schließlich – wir waren schon wieder auf der Straße, auf dem Weg zu meinem Hotel – bat M. mich noch, einen Blick auf die hintere Umschlagklappe zu werfen. Und dort sieht man den Autor mit Langhaar und Brille in Schwarzweiß, eine Hand unterm Kinn, den Daumen am Spalt, in der anderen ein Buch, so konzentriert lesen, dass man annehmen möchte, die Aufnahme sei nicht gestellt. Schön, sagte er, ein Wort, das halblaut über meine Schulter kam, und ich wusste, er sah sich da selbst.
    Eine von M.s verhängnisvollen Begabungen war ja das Finden, aber auch Erfinden von Schönheit und die Art, wie er alle, die an seinem Blick und seinen Lippen hingen, darauf einschwor. Er schuf ein Mosaik der Privatschönheit und widerrief es in Teilen, wenn sich etwas Besseres bot. Beim ersten Blick von Ravello hinunter aufs Meer und die Küste von Amalfi sagte er knapp und leise nur dieses Schlüsselwort, schön, um mich dann anzusehen, bis ich ihm zunickte, also gleichsam mein Jawort gab. Und lange danach, als wir vor dem Bahnhof Zoo in seinem japanischen Müllauto saßen – Herbst zweitausendzwei, ihm blieben keine drei Jahre mehr – zeigte er mir vor dem Abschied das Foto einer Hauswand voller Plakatfetzen und murmelte auch nur das Wort, das für ihn ein Schlüssel zum Leben war, und ich nickte wieder und zog, bevor ich ausstieg, seinen Kopf an meinen. Er winkte mir noch kurz und fuhr auch schon davon, drehte aber nur eine Runde um den Parkplatz vor dem Bahnhof und hielt dann an derselben Stelle. Das Beifahrerfenster war heruntergelassen, ich sah aus dem Inneren der Halle ein graues Gesicht. Und zum ersten Mal war da ein Gefühl, dass er alt wird, ein vorzeitig alter Mann, der einem alten Freund noch einmal die Hand drücken will, also lief ich zu dem Wagen, und er sagte, er hätte eine Bekannte aus dem Bahnhof kommen sehen, wohl ein Irrtum. Er entschuldigte sich, er riet mir zur Eile, damit ich den Zug nicht verpasse, wo wir doch gemeinsam in dieser Minute an einem Herbsttag unseren Zug verpassten, der uns vielleicht doch noch Richtung Lissabon oder an seinen versteckten See gebracht hätte. Ich tat, als sei alles in Ordnung, ein Irrtum auf beiden Seiten, und er tat, als sei er in Sorge um mein Zuspätkommen. Und als ich ihm vorschlug, einfach den nächsten Zug zu nehmen, damit wir noch Zeit hätten, sprach er von einer Arbeit, zu der er müsse, und nickte mir so entschieden zu, dass ich ihm glaubte. Dann ging das Fenster hoch, und er steckte sich eine Zigarette an, als sei er irgendwo allein unterwegs, die Hand schon nach dem ersten Zug matt auf dem Kopf. Und schon war er der, der im Auto rauchte und ohne sich umzusehen wegfuhr, zu einer Arbeit, die nur für ihn existierte, und war es auch nicht, wenn man hinter ihm hersah. Mit wem hatte man es also zu tun? Am ehesten mit einem, für den seine starke Beziehung zur Unwahrheit mehr Bedeutung hatte als irgendeine Wahrheit, oder anders gesagt: M. glaubte an sich als einen, der nicht an sich glaubt, dies aber mit solcher Festigkeit, dass

Weitere Kostenlose Bücher