Eros und Asche
hat – nach dem Abitur in U. S.-Uniform in Vietnam war, hatte M. die Feldadresse wie eine Hundemarke bei sich, voller Sorge um L., aber auch irgendwie neiderfüllt; seine eigene Verwegenheit bestand eher darin, Lebenschancen in den Wind zu schlagen und überhaupt auf jeden Vorteil zu pfeifen.
Als Sartre den Nobelpreis ablehnte, 1964, geriet M. geradezu aus dem Häuschen. Kurz darauf fuhren wir mit Freund L. für die Schülerzeitung von Gaienhofen am Untersee nach Friedrichshafen am Obersee, um einen dort ansässigen bekannten Schriftsteller zu interviewen. Wir mussten dreimal umsteigen, und in jeder verqualmten Bahnhofswirtschaft tranken L. und ich ein Bier, während M. beim Kaffee blieb. Der Autor W. empfing uns auf einer Art Hühnerleiter in seinem Arbeitszimmer, und M. fragte ihn gleich, ob denn auch er den Nobelpreis ablehnen würde, und er antwortete, dazu müsse man ihn erst mal bekommen. Wir führten das Interview dann gemeinsam, aber die eigentlichen Fragen kamen nicht von mir, und in den Notizen, die ich am Schluss dieses Tages gemacht hatte, steht: »M. redet kaum. Und wenn, dann über meine zu freundliche Art gegenüber dem Typen auf der Leiter. Kann dir noch schaden, meint er. Danach nur noch Schweigen.«
Schon damals folgte seinen Worten häufig eine von dunklen Andeutungen belastete Stille, die nicht einmal die Möglichkeit eines nächsten Gesprächs vorstellbar machte, bis er plötzlich eine Platte auflegte, seinen Charlie Parker mit dem nächtlich verlorenen Ton, oder die melancholischen Balladen der Everly Brothers (I’ll do my crying in the rain), und mit dem Feuerzeug den Takt auf die Bettkante klopfte und für uns beide das Joch dieser Stille abwarf; was dann kam, war ein seliges Schweben bei Musik und Zigaretten, das ihn, wenn ich es richtig sehe, gegen jede Art von Krankheit immunisiert hat – ich erinnere mich keiner einzigen Bettlägerigkeit von M. in all unseren Jahren, und genau dieses selige Schweben muss ihn irgendwann mit Anfang fünfzig verlassen haben.
Ein Abend bei Nachbarn, R. und S., ihr Sohn ist mit unserer Tochter in der Klasse, so haben sich die Eltern kennengelernt; die beiden zählen zu den Hausfreunden, wie das Ärztepaar, das über uns wohnt. Man sitzt um einen großen Tisch im ausgebauten Dachgeschoss und isst Lammkoteletts. Die Töchter, elf und dreizehn, reden über ihr Chatten mit Freundinnen, diese Liaison von Elektronik und Bequemlichkeit für ein neuartiges Tratschen, das so viel Platz für Verletzungen lässt, dass die Dinge später nur noch auf konventionelle Art wieder ins Lot zu bringen sind. Und von Erwachsenenseite eine Story aus dem Supermarkt. S. wird von einer Ausländerin angemacht, sie schießt zurück, und ihr Sohn geht dazwischen, moderiert – Bloß nichts Lautes, Unangenehmes, die Contenance wahren. Die Jugendlichen aus schönem Altbaumilieu vermeiden alles Akute, sie sind zufrieden, wenn sie hinterher lästern – auch schon die Haltung von M., mit einem Unterschied: Unsere Kinder wollen keinen Skandal, während er ihn nicht gebraucht hat, weil er selbst skandalös war. Und es war auch nicht unsere Sache zu lästern (wie es beim Chatten nach der Schule, aber auch noch am Tisch der Erwachsenen zwischen Lammkoteletts und Dessert geschieht), dazu war die innere Nähe zum Laster zu groß. Alberto Moravia zählte damals, neben Sartre oder Joseph Roth, zu unseren schreibenden Kronzeugen, wir lasen La Noia und der Der Konformist ; mit dem Laster war nicht zu spaßen, so viel stand fest.
Beim Sonntagsfrühstück nebenbei das Radio – Finnland hat den europäischen Schlagerwettbewerb vom Vorabend gewonnen, man hört das Siegerlied, das sicher nicht fürs Hören gedacht war. Und auch nebenbei die Zeitung der Wochenendler aus dem Altbaumilieu, die vor kurzem abbestellt worden ist, da die Zeit kaum reicht, sie durchzublättern; und dann doch mehr als ein Überfliegen – Bernhard Levy über Peter Handke und Serbien. Der Autor will allen Seiten gerecht werden und besetzt am Ende die Position der Aufklärung, die Handke verlassen habe, und dem Leser des Beitrags (ursprünglich Le Monde ) fällt ein lange zurückliegendes intimes Verlagsessen im Hotel Frankfurter Hof ein. Am Tisch saßen die Geliebte und damals schon Einflüsterin des Verlegers, der Lektor F., der Autor Handke und der, der sich an den Abend erinnert; später aber stieß noch Koeppen dazu, und Handke hob hinter seiner Haartracht die Hand, als Koeppen zum einzigen freien Stuhl ging – der alte
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