Eros und Asche
U. gestorben, und kurz darauf hat M. angerufen. Er war gerade fünfundfünfzig geworden, die eigenen health points gingen schon spürbar herunter, aber das spielte da nur eine Nebenrolle. Der Anruf war eine Form des Kondolierens, obwohl ihm die Distanz, die ich am Ende zu dem alten Verleger hatte, bekannt war; irgendwie glaubte M. aber, ich hinge noch an dessen Lebenswerk, nämlich dem renommiertesten aller Verlage, und jetzt sei für mich die Tür zu diesem Haus endgültig zugefallen. Wir hatten mehrfach über meine Trennung von dem Verlag gesprochen – Jahre bevor andere diese Konsequenz gezogen haben –, und auch über die Summe, die ich bezahlt hatte, um mich mit allen Rechten freizukaufen (nachdem der Verlag einst ein Grund war, nach Frankfurt zu ziehen, um die Manuskripte in einen Briefkasten am Anfang der Lindenstraße zu werfen, statt sie drei Häuser weiter abzugeben, bis ich 1978 schließlich in den Orden aufgenommen war). Und jetzt sah M. die Trennung besiegelt, die Ablöse verloren, ein Anteilnehmen, das ich erst heute verstehe. Er selbst drehte schon seit Jahren jede damals noch gültige Mark um, und die zugegangene Tür war auch die zu seiner Arbeit; er war kein Arzt mehr, er war ein Fall für Ärzte. M. kam dann noch auf die Krankheit des Verstorbenen – nach außen hin ähnlich unklar wie seine – und lenkte damit im Grunde von sich ab. Denn ihm war bereits klar, dass sich sein Körper auf einer Schräge befand, ein Abrutschen, das sich höchstens verlangsamen ließ; zum ersten Mal drang da ein Anflug von Angst durch und machte auch mir Angst. Der alte Zuschauer sah jetzt gewissermaßen seinem entgleitenden Körper zu und wurde, mehr denn je, zur Gestalt des eigenen Geistes (die ja für Kierkegaard zerfließt, sobald man nach ihr greift, ein Nichts, das nur ängstigen kann).
Ein freier Himmel, die Luft noch frisch, vor dem Berg auf der anderen Seeseite, dem Pizzicollo, seiner Kuppe wegen auch Der Nasenmann genannt, ein letztes Wölkchen. Es riecht nach gemähtem Gras, im Pool ein paar Blätter, dazwischen etwas Lebendiges. Eine Fledermaus, beim Mückenjagen ans Wasser gekommen, schwimmt dort, die seidigen Flügel geöffnet; Rettung mit dem Netz, das auch die Blätter auffischt, das kleine Tier wird zum Knäuel, vorsichtig abgesetzt in der Morgensonne vor einem Baum.
Erst gegen Mittag liefern die Jungs den Erwachsenen im Hotel Gardesana am Hafen ab, dort bezieht er Zimmer 302. André Gide hatte hier im Spätsommer Achtundvierzig ein paar Wochen verbracht, in dem Glauben, ja in der Hoffnung, zu sterben, aber es hat nicht geklappt – es war zu schön, ein zu schöner, sein Herz noch einmal mit Leben erfüllender September. Entwendung eines Sessels aus dem Treppenhaus, das übliche Vorgehen: Einrichten des Arbeitsplatzes vor der offenen Balkontür, Blick auf den Hafen, das Kastell und den See. Unten warten die Jungs, sie warten auf unser Boot, das zum Hafen gebracht werden soll, nach langem Winter in der Werft und einigen Verschönerungen; die Bootsglocke aus Lissabon ist im Haus geblieben, sie eignet sich mehr für die Erzählseminare, zum Einläuten einer Lesung. Ich spendiere Pizza für alle, der Sohn erträgt die Anwesenheit des Vaters mit einigem Charme (schließlich geht’s darum, zur Tankstelle zu fahren, bevor ihm das Boot überlassen wird). Und dann kommt die alte Sea Rey endlich, frisch lackiert und mit neuer Musikanlage. Gabriele, der Werftbesitzer – er könnte in seinem roten Overall auch im Mechaniker-Team von Ferrari sein –, erklärt noch einiges vor der Übergabe. Ich mag ihn, wie alle, die in Torri ihr Handwerk verstehen, bis hin zum Apotheker, der mich kürzlich im Hinterzimmer ohne viel Aufhebens operiert hat (Schnitt in eine entzündete Talgeinlagerung und Herausdrücken von etwas, das er salame grande nannte, das Ganze zum Preis einer Heilsalbe).
Die Musikanlage übertönt den Achtzylinder, wir hören, was der Sohn auf Wunsch des Vaters heruntergeladen hat, seine Gegenleistung für das Boot: fünfzig alte Nummern, die Leib- und Magenlieder von M. und mir. Die Jungs genießen die Geschwindigkeit, ihr Begleiter genießt die Musik. Nach dem Tanken in Garda übernimmt C. das Steuer und bringt mich zum Hotel zurück. Die nächsten Stunden werden leicht, schreiben, essen, schlafen; jedes Alleinsein im Haus wiegt schwerer.
Das Schöne ohne Gesellschaft ist schnell ein Klotz am Bein – als ich zum ersten Mal ein paar Tage allein in dem Haus war, hatte ich M. abends angerufen,
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