Eros und Asche
Sonntagsfrühstück und wurde in der Turnhalle von Öhningen uraufgeführt, einem Ort auf der künstlerschweren Höri, wo nicht nur Dix in Hemmenhofen sondern schon Hesse in Gaienhofen aus sich herausgegangen war. In dem Stück geht es um eine Erbschaft, geknüpft an die Bedürftigkeit der Begünstigten, festzustellen von einem Notar, der seinen Überraschungsbesuch auf einen Sonntagmorgen legt und die keineswegs Bedürftigen um ein Haar beim Schlemmen angetroffen hätte. Der Familienvater, vom Autor gespielt, kann im letzten Moment alle Zeichen des Wohlstands verschwinden lassen und lädt den Notar zum Armenfrühstück ein. Man sitzt um den Tisch mit verstecktem Schinken und Eiern unter dem Stuhlkissen, doch der Notar hat ein Auge und ein Gespür noch für die geringste Unstimmigkeit. Und diesen Notar mit Brille und Fotoapparat spielte M.; er spielte ihn mit Inbrunst, ohne zu übertreiben, aber auch ohne hinter dem Berg zu halten. Er war der Notar, dem nichts entging und den nichts erweichen konnte, und der das Erbe am Ende, wie es dem Willen des Verstorbenen entsprach, einem Waisenhaus in Aussicht stellte, ungerührt von allem Gezeter der Lügenfamilie und einem letzten Bestechungsversuch durch die Tochter im Minirock. Der Applaus für ihn war gewaltig, nicht geringer als der für den Autor und gelackmeierten Vater, eher größer, und hätte man damals schon von jeder Schülerfingerübung Fotos und Filme gemacht, wäre da jetzt ein strahlender Junge zu sehen, beschämt vor Glück. Wir hatten später nie mehr darüber geredet, als sei es auch nicht passiert, aber als ich einige Wochen nach M.s Tod unseren alten Klassenlehrer Dr. B. anrief und sagte, ich müsse ihm etwas erzählen und zunächst die Person nannte, um die es ging, kam er sofort mit M. in der Rolle des gnadenlosen Notars, dann erst mit M. dem Mathematikverweigerer, seiner ganzen Intelligenz zum Trotz, und zuletzt mit M. dem Anarchisten, der am liebsten alles gesprengt hätte. Er ist tot, sagte ich, und danach ein paar Sekunden Stille, eine Stille wie ein stiller Triumph – weil er, der Fünfundachtzigjährige, von M. so oft geschmähte und nur heimlich geachtete noch am Leben war. Dann erst ein ehrlicher Schrecken und am Schluss des Gesprächs noch einmal die Erinnerung an die Turnhalle von Öhningen und M.s einzigen Bühnenerfolg; denn Das Sonntagsfrühstück kam nie über seine Uraufführung hinaus, auch das Schicksal der meisten späteren Stücke vom selben Autor.
15
Heute über die ganze Seebreite spitze Wellen, die Berge wie ausgeschnitten, auf dem Pizzicollo immer noch Schnee. Ein Kurstag in greller Sonne (mein Zuhören mit der Aufmerksamkeit eines Blinden, über den Augen eine alte Brille, beide Gläser mit Klebeband undurchdringlich gemacht). Gegen Abend die vorgesehene Bootsfahrt, nur abgekürzt wegen der Wellen; es geht zu einer Insel, auf der schon Dante Zuflucht gefunden hatte, und dort an privater Pracht entlang, von der italienischen Besitzerfamilie nur noch zu halten, indem sie etwa dem deutschen ZDF eine Drehgenehmigung erteilt, womit die Insel auch heute wieder Zufluchtsort ist, für die Zuschauer einer Fernsehserie. Und am nächsten Abend Einzellesungen, die Gruppe als Publikum; es wird getrunken, es wird geraucht, sogar U. raucht eine mit, seltener Anblick, schade nur dass ihre Zigarette aus der Schachtel kam, sie musste sie nicht stopfen und drehen; und vorm Schließen kein Papieranlecken, so vielversprechend wie früher.
Es gibt ein Gedächtnis für alles, was sich mit Rauchen verbindet, so präzise wie das für starke Filmszenen. M. hatte sein Leben lang nicht gedreht, auch nicht in Bedrängnis, er hatte nur Gedrehte genommen. Dieses Tun mit beiden Händen, dazwischen noch kurz die Zunge, war nicht das Schauspiel, das er fünfzigmal am Tag aufführen wollte, ob mit sich selber als Publikum oder vor anderen. Ihm ging es um das Dreieck Mund mit Zigarette, Hand mit Feuerzeug und den Blick darauf, um das Zusammenspiel der drei Pole und um die Spannung daraus. Es war die immer neue Ouvertüre zu seiner Sucht und auch ein Teil von ihr, wie das verlangsamte Ausblasen des Rauchs, das kalkulierte Abstreifen der Asche und sein immer sorgfältiges Ausdrücken der Glut, in kurzen Stößen, den Zigarettenrest zwischen Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger – ein Akt für sich; die noch schwelende Glut war nicht seine Sache, jede Zigarette hatte ihren eigenen Tod zu sterben, auch beim Autofahren. Einmal – wir waren nachts in Berlin
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