Eros und Asche
Gefährtin, während ihrer Mittagspause (in einer physiotherapeutischen Praxis, eingerichtet von M., der sie auch zu dieser Ausbildung gedrängt hat). Ich frage nach seinem Vierzigsten, aber sie weiß darüber nichts, sie weiß nur, dass solche Tage nicht existierten für ihn und folglich auch nicht gefeiert wurden, dass überhaupt Feiern ein Fremdwort war – außerdem habe es damals noch eine andere gegeben, vielleicht wisse die etwas. Und dann erkläre ich H., warum mich dieses Datum interessiere: weil ich an dem Tag geheiratet hätte, hier am See, natürlich ein Zufall, aber einer, der zu denken gebe. Wo am See? H. dachte, der Anruf komme aus Frankfurt, und ich stelle es richtig und rede beim Gehen durch den Hohlweg über Torri und seine Gassen, den kleinen Hafen und unseren Garten mit Seeblick, und von Zuhörerseite die gewohnte Bemerkung, dass man dort sicher auf viele gute Ideen komme. Nein, rufe ich, als Ort der Inspiration ist das Haus ein Reinfall, nicht für andere, aber für mich, die Fantasie muss schon im Gepäck sein! Und in Berlin eine Pause, als sei der Empfang gestört, dann das bekannte leise Räuspern und eine Frage, die mich mitten im Hohlweg stehen bleiben lässt – ob ich mit unserem gemeinsamen Freund in Kolumbien gewesen sei, Mitte der Neunziger, er habe das mehrfach erwähnt, von den Gefahren dieser Reise gesprochen. Sie nennt das Jahr und auch den Monat, und ich wiederhole das Wort Kolumbien im Weitergehen, Kolumbien?, und zögere nur die Antwort heraus, als sei diese Legende eines Ich-Partisanen (der M. zweifellos war) auch meine Legende, von der abzurücken wie Verrat an unserer Freundschaft wäre; und im Übrigen hätte ich eher Sizilien erwartet, das hätte eine gewisse Logik gehabt, aber Kolumbien war die logische Steigerung. Nein, wir waren dort nie, sage ich und am anderen Ende kein Überraschtsein, nur eine gewisse Bestürzung, sie hatte es sich schon gedacht: Denn zu der Zeit sei er mit einer Kollegin in Portugal gewesen, sie habe kürzlich mit der Frau telefoniert. In Portugal? Ich frage nach der genauen Zeit, aber H. ist sich nur mit dem Monat sicher, September – oft auch mein Monat in Lissabon. Sie nennt mir den Namen der Frau, Ärztin in Berlin, vermutlich auch allein. Ob das ein Schock sei, fragt sie noch, als ich schon oben im Haus bin, auf dem Weg zum Schreibtisch. Ja – in der Art, wie bestimmte Fotos, etwa von Hinrichtungen, mit grausamer Wahrheit schockieren. Hinter Kolumbien steckt ja ein wahrer Wunsch: dass wir zwei dort herumgereist seien, allen Gefahren zum Trotz, er mit Kamera, ich mit Notizbuch – das ideale Paar. Eine grausam erstunkene Wahrheit, könnte man sagen; nur die Frau, mit der er stattdessen in Portugal war, hatte vielleicht etwas davon, man sollte sie fragen. Und H. gibt mir die Nummer, dann muss sie schon wieder zur Arbeit. Alte, unschöne Leute massieren: was auch etwas Schönes hat, sagt sie.
Vom Schreibtisch aus geht der Blick auf die Dächer von Torri und über den See bis zur Riviera von Gardone und der Anhöhe voller Zypressen oberhalb von Gardone, wo D’Annunzio sein Fantasiereich hatte, mit dem Fernglas gut zu erkennen; man sieht an diesem klaren Tag sogar das Kriegsschiff, das sich der Möchtegernheld auf seinem geräuberten Besitz hatte schaffen lassen, und wer dort je die Räume besichtigt hat, wird den Begriff der Bernsteinzimmerwohnung verstehen. D’Annunzio ist es geglückt, seinem inneren Leben eine perfekte äußere, wahre Gestalt zu geben. Er war ein Männchen und am Ende der Held, der er zu sein vorgab – während M. so sehr dem Mann glich, dem man Abenteuer zutraut, dass er sich allein mit Geschichten über Wasser halten konnte, solange die Beteiligten separiert blieben, zu Lebzeiten eine lösbare Aufgabe. Der schreibende Freund fragt sich nur, ob es da wenigstens die innere Reise durch Kolumbien gab – er hatte mir mehrfach von dort erzählt, von Erlebnissen in Calí und Bogotá, ohne Begleitung –, eine innere Reise als Trödelgedanken, wenn er durch Antiquariate zog oder dort aushalf, im Halbdunkel hinterer Räume: Gedanken an ein ideales Paar unterwegs im gemieteten Jeep, immer am Rande einer Entführung durch Guerilleros oder Drogengangster. Ich denke, es war so. Selbst in seinen Täumen galt für ihn die alte Westernansicht, die so gut zu John Wayne passte: Wenn man die Wahl hat zwischen der Wahrheit und einer Geschichte, sollte man sich für die Geschichte entscheiden.
Gemeinsames Erleben und Tun, ein fester
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