Eros und Asche
ein ersticktes Weinen am Telefon, nachdem sie meinen Nachruf erhalten hatte, erstickt wie das Lachen von M. Und drei Monate nach der Beerdigung ergab sich eine Lesung in der Caféteria von Mann-Mobilia, Karlsruhe, an sich schon belastend; dazu kam eine von Hamburg aus gesteuerte rasselnde Klimaanlage. Es dauerte eine Stunde, bis die zentrale Steuerung überwunden war, danach eine Stille, aus der es kein Zurück mehr gab. Ich fing an, und eine Nachzüglerin kam aus der Bettenetage, wo sie wohl die Wartezeit verbracht hatte, und nahm in der letzten Reihe Platz, und von Seite zu Seite wurde mir klarer, dass es M.s Mutter war, eine kleine schmale, einst sehr aparte Frau. Nach der Lesung gingen wir essen; ich habe nicht gewagt, von M. zu reden, und sie hat es nicht gewagt, dies von mir zu verlangen. Er hatte ihr drei Wochen vor seinem Tod noch das Internet eingerichtet und versprochen, bald wieder zu kommen, um Programme zu installieren; eine Frau mit Wissensdurst wie er, und jetzt sitzt sie auf dem Trockenen, mit ausgeweinten Augen. Es gibt kein schlimmeres Schicksal, als sein Kind zu überleben, allen Beteuerungen hinterbliebener Eltern, sie wollten ihr Leben danach noch einmal gestalten, haftet etwas Vergebliches an. Der Tod des eigenen Kindes ist die definitive Gestalt. Wir sprachen dann noch über das Schreiben, und ich konnte wenigstens glaubhaft versichern, dass ich durch den Tod ihres Sohnes weit mehr Leser verloren hatte als nur den einen, zum Lesen begabten. Er sei ein Gutteil meiner Leserschaft gewesen, sagte ich, und für sie lag wohl etwas Tröstliches in dieser Rechnung.
Die Menschen, für die es sich zu schreiben lohnt, kennt ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin fast alle persönlich. Am Anfang sind es nur zwei oder drei, im Laufe der Jahre werden es mehr, die meisten zeigen sich früher oder später, sie kommen auf uns zu oder schreiben Briefe von Hand; die wenigsten, die unsere Bücher brauchen, bleiben im Verborgenen, und wenn einer aus dem Kreis stirbt (wie M.), ist es ein Verlust, als seien tausend gestorben. Schon ein einziger Ausfall in dieser intimen Leserschaft kann meine wahren Erfolgsaussichten empfindlich treffen, selbst wenn das Buch, aus welchen Gründen auch immer, gut über den Ladentisch geht (und einem den Makel des Erfolgs einträgt, auch wenn die Zahlen am Ende lächerlich sind, weit unter den Vermutungen derer, die für den Makel sorgen).
Ein klarer Tag Ende Mai, und die Nasenmannspitze des Pizzicollo ist weiß. Die Teilnehmer schreiben im Haus, ich gehe von Raum zu Raum, jeder liest die unüberwindlichste Stelle vor, dann arbeiten wir daran, ein Erzählen im Duett. Immer wieder der Appell an das Erinnern; es ist alles vorhanden, nur ist vieles davon peinlich. Man muss nicht in den Krümeln anderer picken, die besser schreiben oder geschrieben haben; es genügt die Verbindung aus eigenem Abgrund – allem, was einem den Boden unter den Füßen wegzieht oder Dinge tun lässt, für die man keine Zeugen will – und erworbenem Handwerk; das eine ohne das andere ist nichts. Und M., dem es an eigenem Abgrund nicht gefehlt hat, und der sich hätte ins Handwerk knien können wie in die Neurologie, wollte auch für das Spannen des Schreibnetzes über dem Abgrund keine Zeugen – dritte Bedingung des Schreibens, Anhängsel von Abgrund und Handwerk: sich zeigen wollen, sich zeigen können. Und Scheitern kann man auch dann noch, weniger am Schreiben selbst als an dessen Vergeblichkeit.
Oder wollte M. nur die Kontrolle über alle Zeugen seines Lebens? Das Sizilianische in ihm im Widerstreit mit einem Wunsch nach Anerkennung: Schau, wer ich bin, aber sieh es mit meinen Augen – ihm graute vor einem teilnahmslosen Publikum, dem ein Leben wie seins nur als ungelebtes erschien. Er lebte es im Verborgenen, gewährte aber immer wieder Einblicke in seine Privatwelt, die weit mehr von der Welt enthielt als die meisten öffentlichen Welten. Und wenn er sich der Welt einmal zeigte – in meiner Gegenwart tatsächlich nur einmal – und sie ihn empfing, war da ein ungeheurer Stolz, im Nachhinein rührend, aber auch etwas erschütternd, wie das Erzählen von dem Garten, der verschlossenen Kindern das Herz öffnet (denn in jedem Verschlossenen ist ein Geselliger gefangen, der mit wilden Bewegungen nach seiner Freilassung verlangt). Seine erste und letzte Theaterrolle hat M. in einem Stück aus dem damaligen Patronenfüller des Freundes gespielt, im Alter von fünfzehn. Das Stück hieß Das
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