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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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unterwegs, wenige Wochen nach der Maueröffnung – hatte es aus dem Aschenbecher gequalmt, und er hielt am Straßenrand, irgendwo im Osten, der nun auch ein Westen war, und leerte den Aschenbecher auf dem Bordstein aus, etwas unvorsichtig – ein Mann, der gerade vorbeikam, schimpfte laut, er sah darin die neuen, veränderten Sitten, und M. bot ihm eine Zigarette an, ruhig und freundlich, und gab ihm auch Feuer, und für einen Moment waren die beiden Brüder über der Flamme, ein vollkommenes Filmbild, in der Dunkelheit fast schwarzweiß, ein Bild, das auch der Mann aus dem Osten gespürt haben muss, instinktiv. Einer werde den Scheiß schon wegmachen, hörte ich ihn sagen, und M. brach in sein Lachen aus, und wir fuhren weiter, mit offenen Fenstern, damit der Rauch abzog.
    Letzter Kurstag, und noch einmal das Eindringen in jede Geschichte, als sei es die eigene. Nachmittags dann Fahrt nach Brenzone, elf Kilometer nördlich von Torri, und von dort eine Wanderung nach Campo, einem aufgegebenen Ort hoch über dem See, appetitanregend für den Abend bei einem alten Freund – unser Trauzeuge vor vielen Jahren –, der in Brenzone ein Lokal am Wasser hat. Sein venezianischer Koch hat ein Essen vorbereitet, zu dem wir einladen, und am Ende des Abends spendiert der Wirtsfreund die Grappas, die den Abschied erleichtern, und irgendwie kommen wir auf unsere Hochzeit mit nur vier Personen, der ortsansässige Zeuge gekleidet wie der Bräutigam, und einer der Teilnehmer fragt, wann das gewesen sei. U. nennt das leicht zu merkende Datum, erster Oktober siebenundachtzig – ein eiskalter klarer Tag, fügt sie wie immer hinzu, während ich schon auf einen Steg vor dem Lokal gehe, früher der Platz, um abends zu angeln und einem Gedanken nachzuhängen, die Augen auf dem Schwimmer, ob sich da etwas rührte. Nur ist es diesmal kein Nachhängen, sondern das jähe Erfasstsein von einem Gedanken, so jäh, wie der Schwimmer nach unten geht, wenn der Fisch den Haken im Maul hat. Unsere italienische Hochzeit war an M.s vierzigstem Geburtstag. Er wusste nichts von meinem Datum, ich nichts von seinem: der Tag, an dem unsere zwei Leben am weitesten voneinander entfernt waren. Der einstige Trauzeuge kommt mit der Grappaflasche auf den Steg, der Flasche für besondere Anlässe oder Freunde, und wir trinken einen und noch einen und auch noch einen weiteren auf mein Zeichen hin, einen, der hilft, wie früher die Lakritze geholfen hat, wenn sonst nichts mehr half; es war ja nicht nur dieses eine Datum, bei dem Welten zwischen uns lagen, es gab auch noch seine Beerdigung, die ich versäumt habe, mit einer Welt zwischen mir und dem Toten. Der schreibende Freund wollte die Welt an seinem See nicht verlassen, nur scheinbar gehalten durch einen Kurs (den auch U. hätte fortsetzen können, während mich ein Flugzeug morgens nach Frankfurt bringt, in bequeme Nähe zu Karlsruher Friedhöfen, und nachmittags wieder zurück nach Verona, mit den Paaren, die Karten für die Arena haben und schon an Aida denken). Die Freundesflasche geht noch einmal von Hand zu Hand, ein letztes Mal, weil sie leer ist – ohne etwas gefüllt zu haben.

16
    Der Erzähler (dieses Freundschaftsromans) spricht im Präsens, aber sein Erzählen neigt sich der Vergangenheit zu, wie unter dem Einfluss einer Gravitation – die Internatszeit mit M. war dicht, pfeilartig, zeitreich: Sie zerrt an jedem Heute. Etwa zwei Jahre nach seinem Vierzigsten und meiner Hochzeit saßen wir uns wieder in einer Autobahnraststätte gegenüber (Lorsch bei Frankfurt); er war auf dem Weg zu den Eltern, irgendetwas auf Leben und Tod, also hatte er kaum Zeit, wollte mich aber sehen, und so fuhr ich zu dieser Raststätte, und wieder saß er im hintersten Winkel, vor schwarzem Kaffee. Er fragte als erstes, ob ich schon im neuen Osten in der Provinz gewesen sei, und als ich verneinte, erzählte er vom Porösen und Zeitarmen dieser Gegend, die er neuerdings fotografierte. Er zeigte mir Bilder, und auf einmal war eins dabei, das nicht dazugehörte. Da sah man ihn und mich in Berlin während unserer Klassenfahrt, beide stehen wir, mit Zigaretten in der Hand, auf einem hölzernen Aussichtsturm, hinter uns der leere Potsdamer Platz. Wir sehen uns an und lachen, und ich höre noch sein Versprechen über den Raststättentisch, dass er mir einen Abzug schicken wolle. Da schauen wir aus wie Brüder, sagt er und legt schon das Geld für seinen Kaffee hin. Es war ein kurzes, verzweifeltes Treffen, weder ganz in der

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