Eros und Asche
Gegenwart noch ganz in der Vergangenheit; wir sitzen uns gegenüber, er zeigt seine Fotos und redet vom porösen Osten, dem Verfall dort, der Erschöpfung, dem Aus-der-Zeit-gestürzt-Sein, und zugleich ist es ein Reden von uns, noch ehe das alte Foto auftaucht (unter die anderen gemischt wie eine gezinkte Karte, die alles Vorherige oder nur mich, der ganz im heute zu leben schien, ausstechen sollte). Und den Abzug hat er nie geschickt, wie überhaupt nie ein Lebenszeichen von ihm im Briefkasten lag.
Ein ruhiger Samstag, die Frankfurter Hausfreunde (das Ärztepaar) treffen ein, mit dabei unsere Tochter und deren aktuellste Freundin; auch ein ruhiger Pfingstsonntag. Und auf dem Montagsmarkt von Torri dann das Italien eines Kindheitsurlaubs, Wassermelonen, Stände mit buntem Zeug, Damenwäsche für alle Anlässe. Dazu ein Himmel von maßloser Klarheit, bei einer Luft, die nichts als warm und da ist (wie wir für die Kinder, die uns nur als Abwesende bemerken). Nach dem Einkauf Tischtennis mit dem Hausfreund; ich bin nicht schlecht nach dreizehn Insassenjahren mit Freizeit-Pingpong (zehn Jahre Internat, danach Militär, später noch ein Jahr Villa Massimo), aber wir spielen mehr um die Niederlage als um den Sieg. Und abends auf der Terrasse mit Tochter und Freundin das alte Stadt-Land-Fluss; in unserer Tochter gärt es, mein Zugang zu ihr ist winzig, derzeit lebt sie in der Welt einer Soap, Verliebt in Berlin , und erhält eine erste Idee von Liebe, die sich darin ausdrückt, in Berlin studieren zu wollen, sich in die Stadt zu werfen, die M. gefangen hielt (letztlich hat auch ihn ein Liebesverlangen dorthin getrieben: mit dem seinerzeit so Wüsten von Berlin zu verschmelzen, während die Tochter unter den Linden ihr Glück vermutet). Ein langer Abend, eine kurze Nacht, am Vormittag der Abschied von U. und den Mädchen; sie fliegen nach Frankfurt zurück, das Ärztepaar ist schon früh nach Verona gefahren. Im Haus und im Garten wieder Stille, bis auf zwei Zikaden in einem der alten Olivenbäume, zwei, die unermüdlich den Sommerausbruch anpeitschen, wie unter Drogen (das Licht, die Wärme, der Duft des wilden Thymians). Und auch das Zirpen wird zur Droge: für den, der kein anderes Geräusch hört. Das Schöne ohne Gesellschaft ist mehr als nur ein Klotz am Bein, es kann einen auch herausfordern: Man fühlt sich aufgerufen, selbst etwas Schönes zu schaffen, eine Gegendroge, und spürt schnell das Unzulängliche.
M. hatte einmal erzählt, wie er ganz allein zwischen den Ruinen von Segesta saß, in der Morgensonne Siziliens, einer Sonne, die ihr Licht gerecht auf das Karge wie auf das Schöne verteilt habe, während er, darf man vermuten, vor sich hinschaute und rauchte, angeblich als letzter Besucher vom Vortag, der zwischen den noch warmen Säulen die Nacht verbracht hatte, um die Ruinen im Morgendämmer zu fotografieren, aber es sei ihm nicht gelungen, das festzuhalten, was er gesehen habe – vielleicht keine ganz wahre Geschichte, aber eine ganz gute. Ich wollte sie jedenfalls glauben, als er sie in den Tagen vor dem Einmarsch der Sowjets in Prag in einem Ruderboot auf dem Chiemsee erzählt hat; nach dem zwanzigsten August (1968) sprachen wir dann nur noch über Dubček – in Gegenwart der zwei Schwestern, das Ganze ein letzter Anlauf in bayerischer Landschaft –, und M. trug fortan das berühmte Foto des zum Rücktritt gezwungenen weinenden Reformers bei sich, ein von Stellvertretertränen überströmtes Gesicht. Er hat dieses Foto geliebt, und der Freund hat ihn samt diesem Foto geliebt; damals gab es, in manchen Momenten, dieses klare und zugleich dunkle Gefühl in dem Maße, wie Liebe auch eine Krankheit hin zum anderen ist, das Verlangen nach Einheit um jeden Preis, auch dem des Verschwindens im Freund oder dessen Legenden um sich.
In der Hauptgasse von Torri am Frühnachmittag eine tödliche Langeweile. Alle Läden geschlossen, über ausgelegter Ware weiße Tücher, schlummernde Katzen auf Türschwellen. Kinder, die nach dem Essen noch ein Eis wollen, das träge Mädchen, das die Kugeln abfüllt, in der anderen Hand schon ihre Zigarette. Ein Fensterladen, von innen zugezogen, und der Gedanke, dass sich dahinter zwei aus Langeweile finden, die Frau in der Wäsche vom Montagsmarkt, der Mann ohne die Uhr abzustreifen. Und an diesem Junianfang (dem ersten Juni, den M. nicht mehr erlebt) eine Flucht aus der Agonie auf die allereinfachste, verbreitetste Art. Ich telefoniere. Ein Gespräch im Gehen mit H., der
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