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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Träumer am Steuer, drückt viel zu früh und zu heftig aufs Gas, immer noch in Gedanken, und kann nur mit einer Vollbremsung der Katastrophe entgehen. Zentimeter vor dem Vorausfahrenden steht der Wagen, mit dem Glück, dass ein LKW hinter mir genug Abstand gehalten hatte.
    Aber oft sieht es nur so aus, als sei alles gut gegangen; das Herz ist ein wahlloser Sammler, es sammelt jeden Schrecken, ob über ein Beinaheunglück oder ein richtiges. Mein einziger Autounfall liegt sechsunddreißig Jahre zurück, ein Unfall in Tübingen während der Mexiko-WM. In Fußballlaune hatte ich mit M. eine Wette gemacht: ohne zu bremsen die Tübinger Gassen hinunter bis über die Neckarbrücke zu fahren, und hielt mich dann an die Bedingungen, obwohl M. gar nicht neben mir saß, und schleuderte auf die Brücke zu und krachte ins Geländer. Der Käfer (ES-TX 50) hing halb über dem Neckar, und ich lag halb auf dem Kühler in der zersplitterten Scheibe, Schnitte auf dem Kopf und im Gesicht, die ich nicht spürte, und einen langen tiefen Schnitt über der Halsschlagader, der mir halbwegs bewusst war, wie auch meine Position mit Blick auf den Hölderlin-Turm; aber dass die Hupe in einem fort hupte, erschien mir als das Schlimmste. Rettungswagen, Polizei und Feuerwehr kamen, man zog mich vorsichtig vom Kühler, auf die Gefahr, dass der Käfer samt Fahrer in den Fluss stürzte, man brachte mich in die Unfallstation einer Klinik, wo die Ärzte nebenbei Fußball sahen, irgendeine Verlängerung. Die Schwestern rasierten das Kopfhaar des Verletzten, die Ärzte nähten die Schnitte, und im größten übersahen sie einen Splitter (der sich elf Jahre später bei einem Essen in einem feinen Lokal mit meinem Vater nach kurzem Kratzen plötzlich hervorgebohrt hat, begleitet von einer irritierenden Blutung an dem vornehmen Ort, nur blieb mein Vater, aus dem Krieg an Blut gewöhnt, ganz ruhig und gab mir seine frische Serviette, ein Mann, der teilen konnte, und ich zeigte ihm den kleinen Splitter aus Glas, wie er mir einst den großen aus Stahl, der ihn ein Bein gekostet hatte).

18
    Ankunft in einer glühend heißen Hochhauswohnung, Frankfurt, Gartenstraße, es ist endgültig Sommer geworden. Abends mit dem Sohn Fußball, Portugal–Angola, da wird um jeden Ball gekämpft, die früheren Herren tun sich schwer; in der zweiten Halbzeit stößt die Tochter dazu, noch hält der Kontakt, den wir am See hatten. Schließlich verzieht sich der Vater in seine Wohnung, und die Hitze dort zwingt dazu, alle Fenster zu öffnen. Vom nahen Mainufer der Lärm einer Fanmeile, heute erstmals gehörtes Wort, nur ist die Erschöpfung nach der Fahrt mit dem Fastunfall zu groß, um sich das noch anzuschauen. Es gibt eine selbstentwaffnende Müdigkeit, stärker als alle Gedanken (war es M., den ich vor der Liberia gesehen hatte, und hatte auch er mich in den Tagen gesehen?), eine Müdigkeit, die auch stärker als Trauer oder das Verlangen nach Liebe ist. Sie lässt einen einfach nur an den Schlaf glauben – schon der hilfreichste Glaube im Internat, wenn man sich abends in sein Klappbett gelegt hat – und damit auch hoffen, man würde gestärkt aus ihm hervorgehen.
    Wochenanfang, erste Besserung am linken Auge, und wie oft nach stundenlangem Schreiben ein Gefühl der Verwunderung, wenn man danach unter Leute kommt, sich im richtigen Leben bewegt; nicht, dass Schreiben falsches Leben wäre, aber hermetisches, manchmal so umfassend, dass es eben verwundert, jenseits davon noch auf etwas wie eine Fanmeile zu stoßen. Und in der Post eine Anfrage des hessischen Sozialministers: Ob sich der Autor an Aktionen zur Belebung der Organspendebereitschaft beteiligen würde, eventuell Plakate, Fernsehspots oder Lesung in Anwesenheit des Ministerpräsidenten. Ja (aber ungern: zu billig der Nebeneffekt, dadurch irgendwie besser dazustehen). Und hätte ich für M. ein Organ gespendet, etwa eine Niere, falls es möglich und rettend gewesen wäre? Eher nein; M. hätte die Frankfurter Niere auch nicht angenommen, wie er überhaupt kaum etwas angenommen hat, außer einer abstrakten Liebe, die es seitens der Liebenden aber nicht gibt. Nur die verdeckte Liebe ließ er sich gefallen, ein Gefühl gleichsam hinter den eigenen feindlichen Linien.
    Nachmittags Anruf in der neurologischen Praxis von Dr. H., Berlin. Der Anrufer nennt seinen Namen und bittet die Arzthelferin, den Doktor in einer Pause darauf anzusprechen: Es gehe um seine Privatnummer; sie möchte dann kurz zurückrufen und die Nummer

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