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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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verzweigten Garderobenraum im Untergeschoss, wo M. die Pause genutzt hat, um zu rauchen und zu küssen, in dieser Reihenfolge. Er war der Einzige im Kurs, dem es gelang, eine schöne und vom Tanzen erhitzte Partnerin auch an seiner Seite zu halten, auf alle anderen, die gut aussahen, haben in der Pause schon die Primaner mit Schnurrbart gewartet. Erst gegen Ende des Kurses habe ich nachgezogen, mit der blonden B., und in der Garderobennische geküsst und geraucht, die umgekehrte, gesündere Reihenfolge.
    Damals war mir M. immer um einen Kuss voraus, ein Blatt, das sich erst dreißig Jahre später für sein und mein Gefühl gewendet hat. Ich erzählte ihm von einer Lesung, bei der eine der bekannten Schulschönheiten unserer Jahre im Publikum war – hinterher seien wir essen gegangen. Er wollte dann alle Details und bat am Ende um die Telefonnummer der Schönen, und vielleicht hat er seinen Kuss mit ihr nachgeholt oder sich die Schließung dieser Lücke vorgestellt. Auf jeden Fall verliefen unsere Treffen von da an auf einer neuen Augenhöhe, als sei es ein Kuss über Bande gewesen, und die schon unwirklich gewordenen Freundschaftsgesten der frühen Jahre tauchten nach dieser halben Dreiecksgeschichte in anderer Form wieder auf, davon eine sogar in der Öffentlichkeit. Bei unserem vorletzten Treffen – ein Nachmittag im alten Café Einstein – hat er mich auf einmal, als ich über die Brille hinweg die nah ans Gesicht gehaltene Speisekarte las, mit einer Bewegung zu meiner Wange hin aber auch mit Worten korrigiert: Das sehe dümmlich aus, ich sollte besser die Brille abnehmen. Also nahm ich die Brille ab, und er war zufrieden – durch den Rauch hindurch ein langer, fast etwas stolzer Blick auf das Freundesgesicht, das noch nicht so zerstört war wie seins, dazu die Mahnung, mich so nicht fotografieren zu lassen, da es zu falschen Schlüssen führe. Vom Äußeren aufs Innere zu schließen, sei in Deutschland besonders verankert, sagte er. Autoren müssen wie Autoren aussehen, also schau über die Brille – nur nicht bei mir! Und dieser Wunsch mit gespieltem Nachdruck, bevor er den Rauch ausblies, steil auf die Karte, die ich noch hielt. Was hatte sich da Luft verschafft? Der Freund mit dem dümmlichen Ausdruck verletzte ein ästhetisches Empfinden, das zugleich ein Empfinden für den Freund war; die Korrektur also ein diskreter Akt von Liebe – man will optisch das Beste des anderen, weil er einem auch körperlich nicht egal ist (sonst hätte er mich weiter in die Karte glotzen lassen). M. war in diesem Moment und an dem ganzen Nachmittag im Einstein, ja überhaupt, wenn er mit Männern, die ihm lagen, zusammensaß, rauchend beim schwarzen Kaffee, homoerotisch mit jeder Faser (und mit keiner homosexuell), ein Punkt völliger Übereinstimmung zwischen uns.
    Freitag, die Fußballweltmeisterschaft fängt heute an. Am späten Nachmittag ziehen wir in den Ort und suchen uns den besten Platz, unter den Arkaden des Gardesana, wo man sich aufs ZDF geeinigt hat. Und als der Ball dann endlich rollt, wird bei allem Drumherum doch nur gekickt wie eh und je; nach frühem Rückstand der erwartete Sieg. Abends dann das leidige Aufräumen, morgen ist Abreise, das Tanzpaar nach Frankfurt, ihr Zuschauer an den Tegernsee, zur Mutter. Andere Freunde trafen während des Spiels im Haus ein, H. und S., er klinischer Psychologe, eher aber Privatgelehrter, Philosophie-Literatur-Hirnforschung, sie Pianistin, die fast den Sprung geschafft hätte, unbeugsam beim entscheidenden Vorspielen. Noch ein langes Reden auf der Terrasse, auch über Fußball, wie er heute gespielt wird, wie er damals gespielt wurde (als die Hosen so knapp saßen).
    Und während einer anderen WM, der in Mexiko, die wir in Tübingen verfolgt haben, kam es zu einem der letzten frühen Momente von Liebe zwischen M. und mir, neunzehnhundertsiebzig, als die Fußballerhosen am knappsten saßen. Es war unser einziges gemeinsames Semester, er Jura (vor Medizin), ich Psychologie; nebeneinander drückten wir die Bank bei Eschenburg, nebeneinander lagen wir im wundersamen Club der Hundert, in Steinwurfnähe zum Hölderlin-Turm. Man hörte dort Musik und rauchte, ein Herumliegen bis zum Morgen, unter der Obhut einer ebenso schönen wie gezeichneten Wirtin, die M. nur Frau Liebe genannt hat. Und eines Morgens in den WM-Wochen – am Vorabend, so will es die Erinnerung, das legendäre Spiel gegen Italien – traten wir aus dem Club, als die Sonne aufging und Hölderlins Verlies

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