Eros und Asche
durchgeben. Und wenige Minuten später kam schon dieser Rückruf, aber nicht von der Helferin, der Arzt war selbst am Apparat, heiser in sich hineinlachend, Was gibt’s? Am anderen Ende also – kaum zu glauben, so ewig hatten wir uns nicht gesprochen –, inmitten seines Betriebes, der alte R., Neurologe mit Klassikliebe, großer Familie und Praxis in einer der zwei begehrtesten Monopoly -Straßen, eine Adresse, die auch M. in seinem letzten Lebensjahr aufgesucht hatte, zwischen ihm und R. gab es immer wieder Kontakt, eher lose als eng. Und R. und ich, wir waren noch halbe Kinder im Unterstufenheim – Jahre bevor M. auftauchte –, beide im Chor des indianischen Kantors, der seine Knaben, so gut es ging, vor dem Stimmbruch bewahrt hat und sich, so gut es ging, vor der Einsamkeit. R. zählte zu den ganz wenigen, die den hochbegabten Kantor Winnetou durchschaut hatten, und nach dessen Flucht war er der Einzige, der den geistigen Verlust beklagt hat; im Alter von zwölf fand er die klaren Worte, mit Herrn G. sei zugleich das Niveau verschwunden. Auch wir haben am offenen Fenster geraucht und mehr als das – einen Stock über dem Fenster von M. und mir, ein Jahr zuvor. Was gibt’s?, seine alte Frage, und ich erzählte von dem Nachdenken über M. und dem Gespräch mit dessen früherer Kollegin – es gehe um die Todesursache, sagte ich. Und am anderen Ende, vor dem Gemurmel der Helferinnen, die mit Patienten sprachen – er stand wohl am Empfang, der weiße Kittel offen, zwischen den Augen seine steile Falte –, zuerst ein halber Satz, der habe ihn ja noch angerufen, drei Wochen vorher. Und dann stockte die Stimme, mitten im Wort, und ich hörte ein Atmen und dachte an Finnland, an eine Konzertreise mit dem Winnetou-Kantor, auf der ich jeden Abend in irgendeiner Holzkirche im Halbdunkel neben R. saß, während er mit glockenhellem Sopran Cantate Domino sang, schon damals die Falte zwischen den Augen, Kontrapunkt zu seinem weichen Mund, den ich nie aus den Augen gelassen hatte bei diesem Solo, und jetzt hörte ich, wie das Stocken und Atmen nichts anderes als ein Gefühl war, das ihn mitten in seinem Praxisbetrieb überwältigte. Er weinte, während hinter ihm die zehn Euro Gebühr über den Tresen ging und Termine vereinbart wurden, und ich sprach ihn mit seinem Namen an und erzählte, wie mir das auch passiert sei, auf einem Boot, und er fasste sich in einem Hustenanfall und brachte den Satz zu Ende, bevor er auf meine Frage einging. Demnach hatte sich M. telefonisch von ihm verabschiedet, indirekt (wie bei mir), am Ende mit den Worten, dass die Freunde von damals doch die einzigen und wahren gewesen seien. Drei Wochen später dann ein Sekundentod durch Kammerflimmern – gleich zweimal sagte R. Sekundentod, wie um sich und mich zu trösten –, nachdem M. einfach nicht aufgehört hatte zu rauchen, trotz eines schweren Lungenemphysems ein halbes Jahr zuvor. Er wusste, das Weiterrauchen würde ihn töten, in kürzester Zeit, also hat er es betrieben, wie andere auf ein Dach steigen. Und auf die Frage, ob M. auch Krebs gehabt habe, sagte der immer noch bewegte, heiser keuchende Dr. H., der einst engelhaft die Schütz-Kantate sang und bei jeder Schulfeier das Cello spielte (und meine Klassikliebe mit Dvorˇáks Violoncellokonzert in h-Moll opus 104 geweckt hatte), dass M. und er am selben Tag in der CT-Röhre waren – nein, kein Krebs, nur der Zusammenbruch von Lunge und Herz, auf den er hingewirkt habe. Und sonst keinerlei Nachhelfen? Eine halblaute Frage Richtung Berlin und von dort ein eher lautes Nein. Und ein Abschiedsbrief? Halte er so was für möglich, könnte irgendwo so ein Brief sein? R. sagte etwas zu seinen Mitarbeiterinnen, sie sollten ihm eine Nummer heraussuchen, dann hörte ich ihn wieder atmen (ein Geräusch, das mich schon damals, vor bald fünfzig Jahren, am Schlafen gehindert hatte). Arbeite jetzt lieber weiter, sagte ich, und er gab mir den Namen und die Nummer einer Psychologin, der er gelegentlich Patienten schicke, sie sei mit unserem Freund zusammen gewesen, am Ende parallel zu seiner letzten Frau, und habe ihn wohl deshalb verlassen. Und schließlich noch der Rat, A. anzurufen, also die eine der Schwestern, die von M. schwanger war. Er hat ihr vertraut, sagte R. und ich hörte ein Rascheln, als würde er in einer der kompakten hellblauen Gauloises-Packungen kramen, die von jeher in irgendeiner seiner Taschen waren.
Auf der Fanmeile am Main Italien–Ghana; die Begeisterung für nichts und
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