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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Kanzlerin reißt den Mund auf zu einem Schrei, der dann ausbleibt: Das Tor will einfach nicht fallen; bis zur Erlösung in der Zweiundneunzigsten muss ihr offizieller Schrei warten. Dann aber schreien alle mit, und die polnische Truppe macht gute Miene zum verlorenen Spiel; nur unsere gefragte Haushaltshilfe scheint die Niederlage leichtzunehmen, ja sogar heimlich zu begrüßen, so muss sie sich für nichts entschuldigen. Und die Stadt ist außer Rand und Band nach dem Sieg, wie der weiterhin streunende bayerischtrentinische Bär – ein Tier, das M.s ganze Sympathie gehabt hätte: immer schon weg, wenn die Jäger kommen, nie darauf aus, die Beute mitzunehmen, nur sie zu machen und dann zu verschwinden, sich in nichts aufzulösen.

19
    Fronleichnam. In der Schwarzwaldkindheit neben Heiligabend der am meisten zu innerem Jubel Anlass gebende Tag des Jahres, mit einem Himmel wie von Gott befohlen, und den Mosaiken aus Blüten, wohin man sah. Im ganzen Dorf Kirchzarten waren über Nacht, vor jedem Brunnen und jedem Kruzifix, auf jedem kleinen Platz entlang noch ungeteerter Straßen, Bilder in allen Farben entstanden, genau bis auf das Weiße im Auge der Jungfrau, eine Margeritenblüte, und den Heiligenschein aus Vergissmeinnicht, von Bienen umschwirrt. Und all das abgeschritten an der Hand des Ömchens, die gleich bei jedem Bild die Himmelsmutter grüßte, während dem Kind das ganze Glück des Auf-der-Welt-Seins in den Schoß fiel.
    Mittags der Telefontermin mit der Schülerin S. aus dem alten Internat. Sie will Geschichten von früher hören, und der Ehemalige weicht dem aus und macht zugleich eine Andeutung, er fragt, ob es das schützende Schilf zwischen Gaienhofen und Horn noch gebe, und bekommt eine ökologische Antwort (was können wir für das Schilf tun, statt andersherum). Wir reden in verschiedenen Zeiten und treffen uns dann doch im Laufe einer Stunde beim Vergleich des Heute mit dem Gestern. S. zeichnet das ganze Gespräch auf, sie will so bald wie möglich die gekürzte Fassung mailen, fast schon verstörend professionell, ohne den Anklang einer Schwäche, wie etwa einem Lieblingslied, nach dem ich gefragt habe.
    Tell Me , die alte Stones-Nummer, hätte der Ehemalige ohne zu zögern geantwortet, aber die Gegenfrage kam nicht, und jetzt läuft dieses Lied, zu dem ich mit einer der Schwestern getanzt hatte, in der Garderobe unter dem Speisesaal, während M. die andere Schwester mit seinem Lächeln in Schach hielt, eine Hand auf ihrer Schulter, in der anderen, hinter dem Rücken, die Zigarette beim Tanzen. Ein sehnsuchtsvoll wiegendes Lied, I want you back again, I want your love again, und dabei hatten weder er noch ich die Liebe verloren. Er war für A., die etwas jüngere und zartere der Schwestern, ein kluger Prinz, zu dem sie aufsah, und ich für G., die erwachsenere – deren Nummer ich ermittle, während das alte Lied noch läuft – ein schön verrückter Jungdichter, den sie bestaunte, bis das sang- und klanglose Ende kam, als der Bestaunte beim Militär war.
    Stimmen überdauern die Zeit oft besser als Gesichter, sie bewahren sich die Unschuld, vor allem wenn ein Dialekt mitschwingt. Die Stimme von G. ist nur einen Hauch dunkler als früher, aber die Freude über den Anruf hat noch das Helle, das ich geliebt hatte an ihr. Wir sind schnell bei M., wir reden über ihn, als hätten wir gestern zusammen gesessen, und ich höre zum ersten Mal etwas von der Beerdigung, auf der ich nicht war, dafür die Schwestern, sogar eine Stunde am offenen Sarg, vor der Zeremonie. A. hat den Toten gestreichelt, er war rasiert, bis auf den Schnurrbart, der mit verbrennen sollte. Das Beerdigungsthema ist mir unangenehm, ich frage G. nach ihrem Leben, nach ihrer Arbeit, den Kindern. Sie ist kürzlich Großmutter geworden, und einer ihrer zwei Söhne hat damit auch mich ein Stück älter gemacht. Beruflich ist sie ihren Weg gegangen, den gleichen wie die Schwester – beide hatten das Internat verlassen, auf Druck der Schule, auf Druck von zu Hause; beiden hatten M. und ich das Abitur verbaut. G. ist pharmazeutisch-technische Assistentin, in der alten elterlichen Apotheke. Ihr erster Mann ist kurz nach der Scheidung gestorben, ihr zweiter nach zehn Jahren Ehe, ihr Vater ist ebenfalls tot, die Mutter im Pflegeheim, eine Kette des Unglücks, aus der sie sich befreit hat, und auch vom Beruflichen will sie sich noch befreien; ihre Schwester hat bereits mit dem Arbeiten aufgehört, desgleichen der Schwager, er war Chefarzt. Sie

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