Eros und Asche
wieder nichts beeindruckt einen mehr als das Spiel. Ebenso beeindruckend, im Sinne des kaum Fassbaren: wie im Gedränge zwischen den TV-Buden Männer in Lederkleidung ihre Glieder hervorholen – das Herz scheint an diesem Abend als erigibles Organ nicht zu genügen. Die Männer zeigen die Beweise ihres Dabeiseins, auch wenn die Beweisstücke alsbald im Vordermann versteckt werden; sie gehen im anderen unter wie das eigene Hurra im Hurra aller. Und der Beeindruckte erinnert sich an das einzige Stones-Konzert seines Lebens, Zürich, ein bewegender Abend, vermutlich sechsundsechzig. Ich stand mit M. in einer wogenden Menge, wir hörten nur Lärm und sahen zwischen tausend Köpfen und fliegendem Haar weit vorn auf der Bühne ein Hin und Her, wir ahnten höchstens, was da gesungen wurde, und machten unsere eigene Nummer. Let’s spend the night together, schrien wir heraus, und M. warf die Faust hoch, als seien wir bei den Kommunisten, und ich hielt ihn von hinten, wie einer der Fanmeilenkerle den anderen.
Vormittags der Anruf einer Schülerin aus Gaienhofen, ein Name, der heute noch Stiche versetzt, wie die Straßennamen der Kindheit. Die Schülerin aus der Zwölften (Unterprima) möchte ein Interview mit dem Ehemaligen für das Jubiläumsbuch zum sechzigjährigen Bestehen des Internats. Verabredung eines Telefontermins, von ihrer Seite höchst professionell, und danach noch etwas Geplauder von Erwachsenenseite, höchst privat – in welchem Zimmer sie wohne, ob es die Räume unter dem Speisesaal noch gebe etc.; ihre Stimme klingt schön, sie passt zu ihrem Vornamen (dem der Segelfreundin von M. und mir, seiner ersten Liebe, an der ich Anteil hatte).
Und später der jährliche Heizungsablesedienst in Gestalt eines jungen Mannes, der wegen der Hitze im weißen Unterhemd seiner Arbeit nachgeht. Einunddreißig Grad seien im Haus, sagt der Junge à la Pasolini, Accatone , und kriecht zwischen Bücherstapeln und Mobiliar auf dem Boden, um die Plomben an den Heizkörpern abzuzwicken und neue anzubringen und mit Hilfe eines kleinen Hightech-Geräts meinen Verbrauch abzulesen. Er tippt irgendeine Zahl pro Heizkörper ein, man kann es nicht kontrollieren, man muss auch nichts unterschreiben, wie in all den Jahren zuvor; kein Beleg bleibt zurück, nur die Reste der abgezwickten Plomben. Der Mieter sammelt sie ein, als Accattone gegangen ist, und zwischen den hellroten Splittern gibt es auch ein paar dunkelrote, übersehene aus den letzten Jahren. Kaum etwas anderes zeigt mir so die verflossene Zeit an wie diese alten roten Heizkörperplombensplitter.
Die Tochter kommt vom Optiker, sie hat jetzt Kontaktlinsen; der Sohn trägt schon einige Jahre die diskreten Sehhilfen, die Zahnspange haben beide hinter sich, mit bestem Ergebnis, und überhaupt sind sie sichtlich wohlauf. Aber bei beiden neuerdings gezielte Bemerkungen wegen dieser und jener Gene, die ihnen nicht passen (Augen, Haare, IQ), als hätte man bei der Zeugung geschlampt oder schon im Vorfeld die eine oder andere Maßnahme nicht genug beachtet.
Und gegen Abend klingelt die Tochter, die jetzt keine Brille mehr tragen muss, in der Schreibwohnung, ein kleines Wunder. Sie will ein deutsches Fähnchen fürs Fahrrad, und wir erledigen das gleich. Selbstverständlich hätte ich auch die große Fahne am Stiel gekauft, einfach nur froh, trotz schlechter Gene etwas für die Tochter tun zu dürfen, aber die zu drei Euro fünfzig reicht ihr, jedoch in der Variante mit Bundesadler, Hoheitszeichen, das gar nicht verkauft werden darf, auf das sie aber Wert legt. Und der eigentliche Anlass für die Fahne, das Fußballschauen, bei den Nachbarsfreunden im Hof ihrer Firma (Filmbranche), Textorstraße, eins der verschönten Hinterhäuser dieser Gegend, früher düstere Manufakturen, jetzt lichterfüllt. Die Freunde haben gerade umbauen lassen, und wir sehen mit ihrer polnischen Truppe das Spiel gegen Polen, bei polnischen Würsten, polnischem Bier und polnischen Gurken. Mit dabei auch unsere polnische Haushaltshilfe (um die sich mehrere Familien streiten), die gute B. mit ihren ewigen Entschuldigungen für alles – fast noch bei jedem polnischen Angriff. Kein schlechtes Spiel, das lange, torlose Unentschieden kaum einzusehen. Und gegen Ende, als könnte das die Dinge voranbringen, kurz die Kanzlerin im Großbild, neben ihr der äußerlich so drollige polnische Präsident (wohl kaum mit einem letzten Erinnerungsrest an den Kussgeschichtenvorfall im Marmorsaal seines Kulturpalastes). Die
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