Eros und Asche
Dialekt durchaus zur Stimmung beigetragen hatte. Wo aber auch U.s damaliger Hund, den jeder meinte streicheln zu können, sogar ein erster Geiger, den Tourneeplan der Boston Symphoniker durcheinanderbrachte, und wo U. ihren schönen Mut zeigte, als das Liebchen eines Zuhälters mit abgebrochenem Glas auf sie zukam, schön, weil das Liebchen samt Kerl von einem einzigen Lachen entwaffnet wurde. Inzwischen ein Stehlokal für Versprengte aus den Balkankriegen, alle telefonierend, und aus der Musicbox – immer noch in derselben düsteren Ecke – ein Gezetergesang (und wann, wenn nicht jetzt, an die genannten Erinnerungen denken).
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Zugfahrt nach Berlin, im Speisewagen eine Fangruppe, jeder in die Fahne gehüllt, und immer wieder das Lied, das sich in diesen Tagen behauptet, Wir verlieren nie . Außerdem halbstündliche Durchsagen des Schaffners zur laufenden Weltmeisterschaft; und ab Wolfsburg überall stillstehende Windräder, wie ein Kommentar zu dem Service ohne Pfiff. Vom Gang aus dann ein Anruf bei der Psychologin, mit der M. vor seiner letzten Liebe (und vermutlich nach meiner Schwester) zusammen war und mit der zu sprechen mir R., der hustende Neurologe, geraten hat. Aber es läuft nur ein Band, und der Anrufer nennt seinen Namen – früher in ihrer Gegenwart sicher des Öfteren gefallen – und erklärt, woher er ihre Nummer habe, und worum es ihm gehe: um ein Gespräch über seinen toten Freund, mit dem sie, grob geschätzt, sechs, sieben Jahre verbracht habe, vor dem abrupten Ende auf ihr Betreiben (das M. zweimal erwähnt hatte, als Niederlage). Mir geht’s um den Grund dieser Trennung, sage ich und gebe eine aufs Telefon geklebte Mobilnummer durch, noch mit der Bitte, falls sie grundsätzlich nicht mit mir sprechen wollte, wenigstens das zu hinterlassen.
Und schließlich die Stadt, in der M. untergetaucht war wie ein gesuchter Anarchist, aber auch wie der verdeckte Fahnder (immer hinter der Bedeutung der Bedeutung her, bis die Dinge, nach und nach, alle dasselbe bedeutet haben, nämlich nicht mehr daran teilnehmen zu können). Erstmals die langsame Fahrt durch den alten Bahnhof Zoo, oft Anfang und Ende eines Treffens zwischen ihm und mir, und erstmals der Ausstieg am neuen Hauptbahnhof, in einem riesigen Nichts aus Glas und Stahl, darin die Gesänge der Siegesgewissen, die so wenig den Sieg machen wie die vielen Züge einen Hauptbahnhof. M.s frühere Gefährtin soll am Gleis stehen, so ist es verabredet, also das Umschauen nach einer Frau wie der auf den Fotos, die sie geschickt hat, Mitte vierzig, zerzaustes Haar, dunkelblond; feines Lächeln, Katzenaugen. Und während sich der Angereiste noch umsieht, ist da schon eine Hand an seinem Gepäck. Ich bin’s nur, kommt es von der Seite, und bald darauf sitzen wir nebeneinander in einem Auto – der gereinigte Japaner – und hören Musik. H. fährt wie im Schlaf, und sie raucht, wie M. geraucht hat, ständig; ihr Haar ist kürzer und blonder als auf den Fotos, ihre Stimme ist trotziger als am Telefon. Beim Warten vor einer Ampel dreht sie sich eine auf Vorrat, aber sie dreht auch beim Fahren, akrobatisch mit einer Hand, die Katzenaugen, die eigentlich Schalkaugen sind, auf dem Verkehr. Wir fahren in den Osten Berlins, wo sie ihre physiotherapeutische Praxis hat, wir hören Element of Crime . H. fragt, wie die Zugfahrt gewesen sei, sie schaut den Beifahrer kurz von der Seite an, und er bittet um eine Zigarette, sie gibt ihm ihre und dreht eine neue – Du hältst die Zigarette wie er, sagt sie, zwischen Mittelfinger und Ringfinger. Sie vermeidet den Namen, der uns beide verbindet, oder spricht ihn nur leise aus – M. muss ihr viel erzählt haben über den schreibenden Freund und zugleich auch nichts, seine berühmten Andeutungen, mit dem Ergebnis einer Scheu wie gegenüber einem älteren Bruder, den sie nur selten sieht. Die Praxis liegt in einem großen Hinterhaus, mit einem weitläufigen Keller, früher sicher Luftschutzräume, und in einem der Verschläge stehen die vorbereiteten Kartons. Die einstige Gefährtin bietet dem einstigen Freund an, ihn mit den Kartons allein zu lassen, wie man Trauernde an Särgen allein lässt, aber er will gar nicht allein sein, ja auch am liebsten die Kartons gar nicht öffnen, und so öffnet sie den ersten für ihn, und da liegt gleich die alte Joseph-Roth-Ausgabe, die jahrelang auf M.s Klappbettkante gestanden hat, zwischen seinem Akai-Tonband und dem Stapel von twen-Zeitschriften, der später Sartre und Camus
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