Eros und Asche
er habe ihr das auch angedeutet. Sie geht ins Bad, man hört die Dusche, und der ermittelnde Besucher beugt sich über die schreiendste der Collagen. Neben Pasolini Robert Mitchum in der Pose des Aufsässigen, Kopf im Nacken, Blick gen Boden, auf das Foto darunter, die Erschießung eines Partisanen; und drum herum ein Kranz von Frauen, ihre Augen, ihre Lippen, ihre Hintern, als unendliches Versprechen von Ruhe, und mittendrin, auf Löschpapier getippt, der Satz von Eich, dass Erinnerung eine Form des Vergessens sei. Fetzen, die schon in der Schulzeit Bedeutung hatten, und sich offenbar bis zuletzt hielten, wie Fetzen alter Filmplakate an längst aufgegebenen Kinos, wenn der Wind sie anhebt. Er hat die Art, wie er starb, ja vorhergesagt, ruft H. aus dem Bad; die Tür ist nur angelehnt, als sei ich nicht das erste Mal hier, und dann kommt sie auch bloß in ein Handtuch gehüllt heraus, Zigarette im Mund, Feuerzeug und Tabakschachtel in der Hand, einer Hand, die breiter ist, als seine es war. Und da gibt es auch noch ein Album all dieser Fotos und Dinge, sagt sie, das schwarze Poesiealbum, wie sie es nennt, in irgendeiner Kiste. Sie verspricht, es mir bald zu schicken, und ich verspreche ihr, gut darauf aufzupassen.
Will der Besucher etwas von der Besuchten? Er ist gern in ihrer Nähe, er mag sie, auch die Raucherei stört ihn nicht, er raucht einfach mit, sie teilen sich die Selbstgedrehten, wie man früher Kaugummis geteilt hat; und auch alles Übrige an ihr, die Stimme, die Gesten, die Blicke, der Körper, hat etwas Kameradschaftliches; unser gemeinsames Abenteuer trägt den Buchstaben M., es gibt kein anderes. Wir gehen zu einem Italiener, ein paar Straßen weiter, man sitzt sich gegenüber, die Tische sind schmal, zu schmal für ein richtiges Essen. Der Gavi ist gut, das Risotto ist versalzen, es spielt keine Rolle. H. deutet an, dass M. irgendetwas getan haben könnte, um nicht durch Notärzte noch einmal ins Leben geholt zu werden, als Ruine. Und er wollte wohl an seinem See sterben, noch dazu in einer Gegend, in der die Notärzte nicht viel taugen. Sie redet gedämpft und etwas schleppend, wie bei der Nachricht auf der Mailbox (und wie M.s platonische Liebe, mit der er in Lissabon und in Schweden war). Und während sie redet, von seinen letzten Tagen und Minuten erzählt, halte ich ihre Hand, das hat sich ergeben, wie das Du am Telefon (oder war es andersherum mit dem Halten? Dann hätte sie meine Hand in ihrer gehabt – nur Stunden danach sind solche Dinge schon unklar); auf jeden Fall ein Bestreiten des ganzen Essens, bei Risotto kein Kunststück, mit jeweils einer Hand, was sich nicht ohne weiteres ergibt. Nur hörte es dann ohne weiteres wieder auf, beim Gehen durch die Kreuzberger Sommerabendstraßen, vor jedem Lokal schiefe Tische bis zur Bordsteinkante, provisorisch wie die neue Bleibe von H., als sei die gesamte Bewohnerschaft im Umzug begriffen, nicht wissend, wohin, auch nicht wohin mit den Dingen von früher. Wir gehen zurück in ihre Wohnung und trotz offener Fenster eine Ofenhitze in den frisch gestrichenen Zimmern; wir trinken Bier und sitzen in der Wäsche auf Kisten. Nachdem sein Kopf vornüber gekippt sei, habe sie sofort das Nötige getan, sagt H., Beatmung, Massage, Hilferufe. Und es sei auch schnell ein Arzt gekommen und habe ihm sogar die Vorderzähne gebrochen, um ihn zu intubieren, aber er habe sich, mit einem Rest an Leben oder Reflexen gegen jedes Bemühen gewehrt. Also kein Sekundentod? H. leckt ein weißes Blättchen an, eine Idee langsamer als sonst, dann schließt sie die Zigarette und bricht sie entzwei, eine Hälfte für mich, als rauche man auf diese Art weniger. Bei ihm war alles anders, sogar der Tod, sagt sie. Und wie zum Beweis bekommt der Besucher Fotos gezeigt – M. beim Rudern, einen Tag vor seinem Aus, im dunklen Unterhemd, das wie ein alter Herrenbadeanzug aussieht, mit Sonnenbrille und magerem Lächeln, ein Aschenbach, aber nicht der aus dem Film. Und M. unter einem weißen Tuch, nur die nackten Füße stehen hervor – so seien mehr als zwanzig Jahre zu Ende gegangen. H. erzählt und raucht. Sie redet immer noch schleppend, aber darin jetzt ein Trotz: dem Verstummen gegenüber; sie hat die Beine angezogen, volle weiche Beine, den Arm um die Knie, ein in die Jahre gekommenes wildes Mädchen. Unser gemeinsamer Freund, wie sie sagt, unser gemeinsamer Freund habe sie im Grunde von der Straße geholt, um sie zu fotografieren. Und dann zeigt sie ein paar dieser Fotos,
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