Eros und Asche
weichen musste, und beide, Sartre und Camus, tauchen dann auch auf dem Grund auf. H. holt aus ihrer Praxis eine Waage, während ich die drei übrigen Kartons öffne, nur um das Obenliegende zu sehen – Heidegger, Jünger, Nietzsche, wie eine Großfamilie, und in der nächsten Kiste Lorca, Rilke und W. H. Auden, wie eine Speerspitze, und in der letzten alles, was damals schon über den Spanischen Bürgerkrieg zu bekommen war, ganz oben Orwells Mein Katalonien , das graue gebundene Exemplar, aus dem er mir nachts manchmal vorgelesen hatte, um meine Bereitschaft für den Militärdienst und das Training für den bewaffneten Kampf zu stärken. Es gibt nicht viel zum Aussortieren, M. muss sehr genau von seinem Phantomfreund erzählt haben, damit diese Vorauswahl so gelingen konnte; am Ende wiegen die Kartons zusammen hundertacht Kilo. Wir rufen einen Paketdienst an, wir erfragen den Transportpreis nach Frankfurt, und ich gebe H. das Geld. Dann fahren wir zu ihrer neu bezogenen Wohnung, Kreuzberg, Gneisenau-Straße, wiederum das Hinterhaus, dritter Stock. Und alles liegt dort noch herum, Mobiliar, Kisten, Bilder, Schallplatten, Kunstbände, Kleidung – Jacken, die ich wiedererkenne, weil ich M. darin schon bewundert hatte, wenn sie nach den Weihnachtsferien oder einer Mathezwei aufgetaucht waren, und LPs, die wir schon gehört hatten, um nachts in den Schlaf zu finden und morgens aus dem Bett. Nur der Sammler selbst fehlt – doch kann er nicht weit sein, denkt man, höchstens auf dem Weg zum Automaten, ja vielleicht steht er sogar noch im Flur, auf der Suche nach Münzen in allen möglichen Taschen, und ich höre noch sein Ich bin schon weg vor solchen Zigarettengängen, beim geringsten Versuch, herauszubekommen, was er vorhatte. Wie geht es dir? fragt H. (um nicht zu fragen, woran der Besucher denkt); eine leise, fast besorgte Erkundigung inmitten des Chaos, und die knappe Antwort, Geht schon, kann ihr nur bekannt vorkommen.
Wie Hinterbliebene stehen wir, rauchend, zwischen den Kisten und Möbeln, darunter das schwarze Ledersofa, auf dem ich mit M. während des einzigen Besuchs in seiner Wohnung gesessen hatte – von H. damals keine Spur, sie war verbannt worden für diese Nacht. Wir vermeiden es, über ihn zu reden, wir vermeiden es auch, auf dem Sofa zu sitzen. Wir setzen uns auf die Kisten, beide im Unterhemd wegen der Hitze, jeder sieht den anderen ab und zu an, kurze, kopfschüttelnde Blicke, und irgendwann geht der Besucher ins Bad, wo zwischen weiteren Kisten große, mit Packpapier umwickelte Bilder stehen, hat er gemalt? Was das für Bilder im Bad seien, frage ich H. nach dem Duschen, und sie kommt, die Zigarette im Mund, von ihrem provisorischen Sitz hoch; Rauchen steht ihr, so wie es ihm stand, und überhaupt hat sie seine Bewegungen, sein Lachen, seine Falten um die Augen. Sie holt die Bilder, sie stellt zwei auf das Sofa in der Verpackung, dann legt sie Musik auf – eine von über tausend Platten, die M. hinterlassen hat, die mit Yves Montand, als er blutjung war, auf der Hülle ein Schwarzweißfoto, der Sänger im legendären Olympia, und auf der Platte auch das Lied, mit dem M. mich bei unserer ersten Begegnung am offenen Fenster geprüft hatte, Bella ciao . Es sind Sachen von ihm, sagt H. beim Entfernen des Packpapiers. Und dann holt sie mehrere Collagen hervor, große und kleine, die er vor einigen Jahren gemacht habe, nachts bei Musik auf dem Fußboden, bis seine Krankheit – welche Krankheit? wirft der Besucher ein –, die mit den Beinen, seine Polyneuropathie, was das immer sein mag, mehr und mehr um sich griff; und der Besucher, das Haar noch nass vom Duschen, steht vor diesen hoch- und querformatigen Bildern, die sich aus Hunderten kleinerer Bilder zusammensetzen, wie vor Erinnerungen an ein ungelebtes Leben. Und die amtliche Todesursache? Wie nebenbei, diese Frage, während sich das Auge einen archimedischen Punkt in dem Wirrwarr wählt oder von selbst an einem der Splitter hängen bleibt, einem Foto von Pasolini, sein hagerer Kopf, der brennende Blick, Pasolini allein mit dem Laster. Ein Herzsekundentod, sagt H., und ich erzähle von dem Anruf in der Praxis eines erschütterten Neurologen (von dem sie natürlich gehört hat), aber auch dem Anruf im Haus eines pensioniertes Chefarztes auf der Schwäbischen Alb, verheiratet mit einer der Schwestern. Er soll Tabletten gehabt haben, schon ein Jahr vor seinem Tod, sage ich, und die Gefährtin dreht sich eine neue Zigarette – Ja, wahrscheinlich,
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