Eros und Evolution
Mendels Erkenntnissen vereinigt, der nachgewiesen hatte, daß erbliche Faktoren aus Einzelportionen bestehen, die man in der Folgezeit als Gene bezeichnete. Darwins und Mendels Ergebnisse bildeten so das Grundgerüst einer Theorie, mit der man zu erklären imstande war, wie Mutationen an Genen sich innerhalb einer ganzen Spezies ausbreiten können.
Doch unter dieser Theorie war ein ungelöstes Problem begraben. Wenn die Besten ums Überleben kämpfen: Mit wem konkurrieren sie eigentlich? Mit den eigenen Artgenossen oder mit Angehörigen anderer Spezies?
Eine Gazelle in der afrikanischen Savanne ist bestrebt, nicht von Geparden gefressen zu werden, sie ist gleichzeitig aber auch bestrebt, schneller als andere Gazellen zu laufen, wenn die Herde von einem Geparden angegriffen wird. Für die Gazelle zählt, daß sie schneller ist als andere Gazellen, und nicht, daß sie schneller ist als die Geparden. (Es gibt die alte Geschichte von einem Philosophen, der wegrennt, als er und sein Freund von einem Bären bedroht werden. »Das nützt nichts, du wirst niemals schneller sein als der Bär«, sagt sein logisch denkender Freund.
»Das muß ich auch gar nicht«, antwortet der Philosoph. »Ich muß nur schneller sein als du.«)
Psychologen fragen sich gelegentlich, wie überhaupt jemand die Gabe erlangen konnte, die Rolle des Hamlet spielen zu können oder die Differentialrechnung zu begreifen, da seinerzeit, als der menschliche Intellekt sich unter primitiven Bedingungen formte, keine der beiden Fähigkeiten von Bedeutung für die Menschheit war. Einstein wäre vermutlich ebenso ratlos gewesen wie jeder andere, wenn er vor dem Problem gestanden hätte, ein Wollnashorn zu fangen. Nicholas Humphrey, ein Psychologe aus Cambridge, war der erste, der die Lösung dieses Rätsels klar erkannte. Wir setzen unseren Intellekt nicht ein, um praktische Probleme zu lösen, sondern um einander auszutricksen. Um Leute zu hintergehen, Betrug aufzudecken, die Motive anderer Menschen zu verstehen und Leute zu manipulieren – dafür benutzen wir unseren Verstand.
Es ist also nicht von Bedeutung, wie klug und geschickt Sie sind, sondern wieviel klüger und geschickter als andere Sie sind. Der Wert des Intellekts ist grenzenlos. Die Selektion innerhalb einer Spezies wird immer wichtiger sein als die Selektion zwischen verschiedenen Spezies. 13 Diese Unterscheidung mag auf den ersten Blick abwegig erscheinen.
Schließlich ist trotz alledem das Beste, was ein Tier für seine Art tun kann, zu überleben und sich fortzupflanzen. Angenommen, das Individuum ist eine Tigerin, in deren Territorium vor kurzem eine andere Tigerin eingewandert ist. Heißt sie den Eindringling willkommen und bespricht mit ihr, wie sie das Territorium am zweckmäßigsten zusammen beherrschen und die Beute untereinander aufteilen? Nein, sie kämpft mit ihr auf Leben und Tod – was vom Standpunkt der Spezies aus betrachtet wenig hilfreich ist. Oder nehmen wir an, das Individuum sei ein Adlerjunges einer seltenen Spezies, sorgsam in seinem Nest von Naturschützern bewacht. Adlerjunge töten häufig ihre jüngeren Geschwister.
Gut für das Individuum, schlecht für die Art.
Im gesamten Tierreich kämpft ein Individuum gegen das andere, gleichgültig ob dieses derselben Spezies angehört oder nicht. Und der mächtigste Konkurrent, dem ein Lebewesen mit einiger Wahrscheinlichkeit je im Leben begegnen wird, ist tatsächlich ein Angehöriger seiner eigenen Art. Die natürliche Selektion ist nicht auf Gene ausgerichtet, die Gazellen helfen, als Spezies zu überleben, sondern auf Gene, die den Chancen von Einzeltieren entgegenstehen – denn solche Gene werden ausgerottet, lange bevor sich ihre Vorzüge zeigen können. Es ist eben nicht so, daß Spezies andere Spezies bekämpfen, wie Nationen gegeneinander ins Feld ziehen.
Wynne-Edwards war felsenfest davon überzeugt, daß Tiere häufig etwas für ihre Art tun, oder zumindest für die Gruppe, in der sie leben. So war er beispielsweise der Ansicht, Seevögel entschieden sich bei einer hohen Populationsdichte dafür, nicht zu brüten, um übermäßigen Druck auf das Nahrungsangebot zu vermeiden. Sein Buch hatte die Bildung zweier Lager zur Folge: die Verfechter einer Theorie der Gruppenselektion, die der Überzeugung waren, ein großer Teil tierischen Verhaltens werde nicht durch individuelle Interessen bestimmt, sondern von den Interessen der Gruppe, und die Vertreter einer Theorie der Individualselektion, die der Ansicht
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