Eros und Evolution
daß die menschliche Gesellschaft nicht aus erbarmungslosen Wesen besteht, die sich gegenseitig ausplündern. Er sah aber auch, daß Kooperation nahezu immer nur unter sehr engen Verwandten stattfindet – Mutter und Kind, verschwisterte Arbeiterbienen – und dort, wo sie direkt oder schließlich dem Vorteil des einzelnen dient. Es gibt wirklich nur sehr wenige Ausnahmen. Und das ist deshalb so, weil eigennützige Individuen immer dann, wenn Eigennutz höher im Kurs steht als Altruismus, die größere Zahl der Nachkommen haben, so daß die Altruisten unausweichlich aussterben. Dort aber, wo Altruisten ihren Verwandten helfen, helfen sie denen, die mit ihnen die gleichen Gene teilen, unter anderem auch die Gene – welche auch immer das sein mögen –, die sie zu Altruisten machten. Somit breiten sich solche Gene ohne jede bewußte Absicht seitens der Einzelwesen aus. 17
Williams erkannte aber auch, daß es für dieses Muster eine störende Ausnahme gab: die Sexualität. Die traditionelle Erklärung für die Existenz von Sexualität, die Vikar-von-Bray-Theorie, basierte vor allem anderen auf der Gruppenselektionstheorie. Sie forderte, daß ein Individuum bei der Fortpflanzung seine Gene mit den Genen eines anderen in selbstloser Weise teilt, weil die Spezies sich andernfalls nicht erneuern würde und ein paar hunderttausend Jahre später von anderen Spezies verdrängt würde, welche sich erneuert haben. Spezies mit sexueller Vermehrung, so sagte diese Theorie, sind besser dran als Spezies, die sich asexuell vermehren.
Sind aber auch Individuen mit sexueller Vermehrung besser dran als Individuen, die sich asexuell vermehren? Falls dies nicht der Fall ist, ließe sich Sexualität mit Williams’ »eigennütziger« Denkweise nicht vereinbaren. Aus diesem Grunde mußte entweder irgend etwas mit den Eigennutztheorien nicht stimmen, so daß wahrhafter Altruismus doch entstehen könnte, oder aber die traditionelle Erklärung für die Existenz von Sexualität mußte falsch sein. Und je gründlicher Williams und seine Mitstreiter der Sache auf den Grund gingen, um so weniger sinnvoll schien ihnen Sexualität im Hinblick auf das Individuum zu sein, ganz im Gegensatz zur Spezies.
Michael Ghiselin von der California Academy of Sciences in San Francisco beschäftigte sich seinerzeit gerade mit einer Studie zu Darwins Arbeiten, und ihm fiel auf, daß Darwin selbst stets die Vorrangigkeit des Kampfes zwischen Individuen gegenüber dem Kampf zwischen Gruppen betont hatte. Doch auch Ghiselin begann darüber nachzudenken, daß Sexualität hierbei scheinbar eine Ausnahme bildete. Er stellte sich folgende Frage: Wie könnte sich ein Gen für sexuelle Fortpflanzung zuungunsten eines Gens für asexuelle Fortpflanzung ausbreiten? Nehmen wir an, alle Angehörigen einer Art vermehrten sich asexuell. Eines Tages aber erfände ein Paar die sexuelle Fortpflanzung. Welchen Vorteil hätte dies? Und wenn es keinen Vorteil hätte, wie könnte sich diese Eigenschaft dann ausbreiten? Wenn sie sich aber nicht ausbreiten könnte, weshalb pflanzen sich dann so viele Arten sexuell fort? Ghiselin konnte sich nicht vorstellen, wie die neue, sich sexuell vermehrende Art mehr Nachkommen hinterlassen könnte als die alte, sich asexuell vermehrende. Im Grunde müßte sie sogar weniger Nachkommen haben, denn im Gegensatz zu ihren Rivalen müßten in ihrem Fall die Individuen Zeit damit verschwenden, einen Partner zu finden, und einer der beiden Partner, das Männchen, bekäme keine Jungen. 18
John Maynard Smith von der University of Sussex in England, ein zur Genetik abgewanderter Ingenieur mit einem scharfen und ein bißchen verspielten Verstand, Schüler des großen Neodarwinisten J. B. S. Haldane, beantwortete Ghiselins Frage – ohne allerdings das Dilemma damit zu lösen. Er stellte fest, daß ein Gen für Sexualität sich nur dann ausbreiten könne, wenn es die Anzahl der Nachkommen, die ein Individuum haben kann, verdopple – eine scheinbar unsinnige Vorstellung. Angenommen, so erklärte er, wobei er Ghiselins Gedanken umdrehte, in einer Spezies mit sexueller Vermehrung beschlösse ein Individuum eines Tages, auf Sexualität zu verzichten und seine Gene sämtlich in den eigenen Nachwuchs zu investieren, ohne dabei welche von seinem Partner zu verwenden. Es hätte damit doppelt so viele Gene an die nächste Generation weitergegeben wie seine Rivalen. Mit Sicherheit bekäme es dadurch einen Riesenvorsprung. Es hätte doppelt soviel zur nächsten
Weitere Kostenlose Bücher