Eros und Evolution
waren, daß grundsätzlich nur individuelle Interessen triumphieren. Das Argument der Gruppenselektionisten ist ungeheuer ansprechend – wir versinken in einer Ethik aus Teamgeist und Nächstenliebe. Darüber hinaus scheint es auch tierischen Altruismus zu erklären: Bienen sterben, wenn sie versuchen, den Bienenstock zu schützen, und stechen; Vögel warnen einander vor Räubern oder helfen, ihre jüngeren Geschwister zu füttern; sogar Menschen sind bereit, in einem Akt selbstlosen Heldentums zu sterben, um das Leben anderer zu retten. Doch der Schein täuscht, wie wir sehen werden. Altruismus bei Tieren ist ein Mythos; selbst bei den spektakulärsten Fällen von Selbstlosigkeit stellt sich heraus, daß Tiere den eigennützigen Interessen ihrer eigenen Gene gehorchen – auch wenn dies heißen mag, gelegentlich den eigenen Körper zu mißachten.
Die Wiederentdeckung des einzelnen
Sollten Sie jemals Gelegenheit haben, irgendwo in Amerika an einer Konferenz von Evolutionsbiologen teilzunehmen, dann haben Sie vielleicht Glück und bekommen einen hochgewachsenen, lächelnden Mann mit grauem Schnurrbart zu Gesicht, der, oberflächlich betrachtet, eine leichte Ähnlichkeit mit Abraham Lincoln hat und sich bescheiden im Hintergrund des allgemeinen Trubels hält. Höchstwahrscheinlich umgibt ihn eine Traube von Bewunderern, die jedem seiner Worte andächtig lauschen – denn er ist eher schweigsam. Durch den Raum wird ein Raunen gehen: »George ist da.« Aus den Reaktionen der Leute wird Ihnen die Ahnung erwachsen, daß Sie es hier mit menschlicher Größe zu tun haben.
Der Mann, um den es geht, ist George Williams. Die meiste Zeit seiner sehr erfolgreichen beruflichen Laufbahn hat er als stiller, in seine Bücher vergrabener Biologieprofessor an der State University of New York in Stony Brook, Long Island, verbracht. Von ihm stammen keine bemerkenswerten Experimente und keine verblüffenden Entdeckungen.
Und doch ist er der Vater einer Revolution in der Evolutionsbiologie, die von ähnlicher Tragweite war wie einst die Darwinsche. Im Jahre 1966 schrieb er – aufgebracht über Wynne-Edwards und andere prominente Verfechter der Gruppenselektionstheorie – in seinen Sommerferien ein Buch darüber, wie Evolution seiner Ansicht nach wirklich abläuft. Dieses Buch mit dem Titel Adaptation and Natural Selection erhebt sich noch heute wie ein Gipfel des Himalaya über die Biologie. Es war für die Biologie, was Adam Smiths Werk für die Wirtschaftswissenschaften gewesen war: Es erklärte, in welcher Weise kollektive Wirkungen auf die Handlungen selbstsüchtiger Einzelwesen zurückgehen. 14 In diesem Buch begegnete Williams den logischen Fehlern der Gruppenselektionstheorie mit entwaffnender Schlichtheit. Die wenigen Evolutionsforscher wie Sir Ronald Fisher, J. B. S. Haldane und Sewall Wright, die immer auf seiten der Individualselektionstheorie geblieben waren, erfuhren hier neue Bestätigung. 15 Diejenigen, die wie Julian Huxley 16 Spezies und Individuum durcheinandergebracht hatten, sahen sich unversehens im Abseits. Innerhalb weniger Jahre nach dem Erscheinen von Williams’ Buch wurde Wynne-Edwards eine schwere Niederlage zuteil, und nahezu alle Biologen stimmten darin überein, daß ein Lebewesen durch die Evolution niemals die Fähigkeit entwickeln könne, seiner Art zu seinen eigenen Ungunsten zu helfen. Ein Lebewesen kann nur dann selbstlos handeln, wenn seine Interessen mit denen der Art vereinbar sind.
Diese Vorstellung war in höchstem Maße beunruhigend, denn sie beinhaltete das Bild eines sehr grausamen und herzlosen Individuums, und sie wurde obendrein in einem Jahrzehnt geboren, in dem die Ökonomen ausgiebig ihre Entdeckung feierten, daß man mit der idealistischen Begründung, sie leisteten einen Beitrag zur Gesellschaft, Menschen dazu überreden konnte, höhere Steuern zu zahlen. Die Gesellschaft, sagten sie, gründet sich nicht notwendigerweise darauf, die Gier des einzelnen zu unterdrücken, sondern sie kann statt dessen an seine bessere Natur appellieren. Und nun kamen die Biologen bei Tieren zu genau dem entgegengesetzten Schluß – und entwarfen das Bild einer rauhen Wirklichkeit, in der kein Tier jemals sein eigenes Streben den Bedürfnissen des Teams oder der Gruppe opfern würde. Krokodile fressen einander auch dann noch die Jungen weg, wenn die Spezies schon auszusterben droht.
Doch Williams’ Aussage lautete anders. Er wußte sehr gut, daß Einzeltiere häufig zu kooperieren scheinen und
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