Eros und Evolution
ihrer Vitalität, Größe und ihrer (asexuellen) Reproduktionsrate anheimfiel. Bei einer erneuten Analyse der Experimente fand Bell einige klare Beispiele für die Aktivität der Muller-Ratsche. Bei Protozoen, die keine Gelegenheit zu sexueller Vermehrung hatten, sammelten sich ungünstige Mutationen allmählich an. Dieser Prozeß wurde bei einer bestimmten Gruppe von Protozoen, den Ciliaten, durch die Angewohnheit beschleunigt, die Gene der Keimbahn gesondert zu lagern und Kopien davon für den täglichen Gebrauch an einem anderen Ort aufzubewahren. Die Reproduktion der Kopien erfolgt rasch und oft ungenau, so daß sich hier die Fehler besonders rasch häufen. Bei diesen Organismen gehört zur sexuellen Fortpflanzung unter anderem auch, daß alle Kopien ausrangiert und aus den Keimbahnoriginalen neue Kopien angefertigt werden. Bell vergleicht dies mit einem Tischler, der stets den letzten hergestellten Stuhl – samt Fehlern – kopiert und sich nur gelegentlich wieder am Originalentwurf orientiert. Sexualität wirkt also in der Tat als Jungbrunnen. Sie versetzt diese Kleinstlebewesen in die Lage, sich bei jedem Akt sexueller Fortpflanzung aller inzwischen angesammelten Fehler aus einer besonders rasch arbeitenden asexuellen Ratsche zu entledigen. 37
Bell zog daraus eine merkwürdige Schlußfolgerung. Wenn die Population klein (weniger als zehn Milliarden) oder die Anzahl der Gene bei einem Organismus sehr groß ist, hat die Muller-Ratsche einen ernst zu nehmenden Effekt auf die asexuelle Linie. Und zwar deshalb, weil die fehlerfreie Genklasse in einer kleineren Population leichter verlorengeht. Lebewesen mit einem größeren Genom und relativ kleinen Populationen (zehn Milliarden ist ungefähr das Doppelte der heutigen Weltbevölkerung) werden sich relativ rasch in Schwierigkeiten »ratschen«.
Jene mit größeren Populationen und relativ kleinem Genom haben aber keine Probleme. Bell vermutet, daß die sexuelle Form der Reproduktion eine Voraussetzung dafür war, daß Lebewesen groß wurden (und sich weniger schneller vermehrten), beziehungsweise umgekehrt, daß Sexualität bei kleinen Lebewesen unnötig ist. 38
Er berechnete, wieviel Sexualität notwendig ist – oder besser, wie viele Rekombinationen notwendig sind, um die Ratsche anzuhalten, und kam zu dem Ergebnis, daß bei kleineren Lebewesen weniger Sexualität notwendig ist. Wasserflöhe vermehren sich nur alle paar Generationen sexuell. Menschen müssen das in jeder Generation tun. James Crow von der University of Wisconsin in Madison geht sogar noch weiter und vermutet, daß die Muller-Ratsche möglicherweise erklären könnte, weshalb Knospung eine vor allem bei tierischen Lebewesen sehr seltene Form der Fortpflanzung ist. Auch die meisten sich asexuell vermehrenden Arten nehmen es noch immer auf sich, ihren Nachwuchs aus einzelnen Zellen (Eiern) zu ziehen. Weshalb? Crow nimmt an, dies geschehe deshalb, weil Fehler, die für eine einzelne Zelle tödlich sind, sich in eine Knospe sehr leicht einschleichen könnten. 39 Wenn aber die Ratsche nur für große Lebewesen ein Problem darstellt, weshalb pflanzen sich dann so viele Kleinlebewesen sexuell fort? Außerdem bedarf es, um die Ratsche anzuhalten, nur gelegentlicher Episoden sexueller Aktivität; es wäre nicht nötig gewesen, daß so viele Tiere die asexuelle Fortpflanzung abschafften. Alexej Kondraschow vom Research Computer Centre in Poschino bei Moskau präsentierte im Bewußtsein dieser Problematik eine Theorie, die eine Art Umkehrung der Muller-Ratsche ist. Sein Argument: Wenn ein Lebewesen in einer Population mit asexueller Reproduktionsweise durch eine Mutation stirbt, wird die Population diese Mutation los – weiter nichts. In einer Population mit sexueller Fortpflanzung hingegen haben einige der Organismen von Geburt an viele Mutationen, andere hingegen weniger. Wenn nun diejenigen mit den vielen Mutationen sterben, dann wird durch sexuelle Vorgänge die Ratsche beständig in die andere Richtung gedreht, das heißt, die Zahl der Mutanten nimmt ab. Da die meisten Mutationen schädlich sind, bedeutet dies einen deutlichen Vorteil für die sexuelle Fortpflanzung. 40
Warum aber sollten Mutationen auf diese Weise ausgeräumt werden statt durch bessere Kontrolle und Korrektur? Kondraschow bietet eine eindrucksvolle Erklärung dafür, weshalb dies sinnvoll sein sollte. Wenn man sich dem Zustand der Vollkommenheit nähert, nehmen die Kosten für die Perfektion von Kontroll- und Reparaturmechanismen
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