Eros und Evolution
Weise, in der Viren Kopien ihrer selbst in andere Wirte einschleusen. Computerviren haben sich seither zu einem weltweiten Problem entwickelt. Es entsteht der Eindruck, als sei die Bedrohung durch Parasiten in jedem Lebenssystem unumgänglich. 29
Doch Cohens Virus und seine vertrackten Nachfolger sind von Menschen geschaffen. Erst als Thomas Ray, ein Biologe von der University of Delaware, vom Interesse an KL gepackt worden war, entstanden Computerviren auch spontan. Ray entwarf ein System namens Tierra, das aus miteinander konkurrierenden Programmen bestand, die ständig durch Mutationen mit kleinen Fehlern versehen wurden. Erfolgreiche Programme setzten sich auf Kosten anderer Programme durch.
Das Ergebnis war verblüffend. Unter den Bedingungen von Tierra begannen die Programme, sich im Verlauf ihrer Evolution zu kürzeren Versionen ihrer selbst zu entwickeln. Ein Originalprogramm aus achtzig Anweisungen wurde durch eines mit neunundsiebzig Anweisungen ersetzt. Plötzlich erschienen aber Programmversionen, die nur fünfundvierzig Anweisungen lang waren: Sie entliehen die Hälfte des von ihnen benötigten Codes aus anderen Programmen. Dies waren echte Parasiten. Bald darauf hatten einige der längeren Programme etwas entwickelt, was Ray als Immunität gegenüber Parasiten bezeichnete: Einem Programm gelang es, unempfindlich gegen angreifende Parasiten zu werden, indem es sich teilweise tarnte. Doch die Parasiten waren dadurch nicht zu schlagen. Irgendwann erschien ein mutierter Parasit auf der Bildfläche, der die getarnten Programmteile aufspüren konnte. 30
Und so nahm das Wettrüsten seinen Lauf. So manches Mal, wenn Ray den Computer laufen ließ, wurde er mit spontan auftretenden Hyperparasiten, sozialen Hyperparasiten und betrügerischen Hyper-Hyperparasiten konfrontiert. Alles in einem Evolutionssystem von (ursprünglich) geradezu lächerlicher Einfachheit. Er hatte somit demonstriert, daß die Existenz eines Wirt-Parasiten-Wettrüstens eine der grundlegendsten und unausweichlichen Konsequenzen der Evolution ist. 31 Der Vergleich mit dem Wettrüsten hinkt allerdings etwas. Bei einem wirklichen Wettrüsten gewinnt eine alte Waffe nur selten ihren Vorteil zurück. Die Tage des Langbogens sind vorüber. Im Wettstreit zwischen einem Parasiten und seinem Wirt können die alten Waffen unter Umständen aber die effizientesten sein, weil der Gegenspieler es verlernt hat, sich gegen sie zu verteidigen. Die Rote Königin steht also vielleicht weniger vor dem Dilemma, stets am selben Ort zu bleiben, als vor dem Problem, immer wieder von vorn anfangen zu müssen – wie Sisyphos, dazu verdammt, in Ewigkeit einen Stein auf einen Hügel des Hades zu rollen, nur um ihn wieder hinabrollen zu sehen.
Es gibt drei Möglichkeiten, wie Tiere ihren Körper vor Parasiten schützen können. Zum Beispiel können sie, wenn sie rasch genug wachsen und sich fortpflanzen, die Parasiten »hinter sich lassen«. Pflanzenzüchtern ist das wohlbekannt: Die Spitze des wachsenden Sprosses, in welche die Pflanze all ihre Kraft legt, ist in der Regel parasitenfrei. Eine bemerkenswerte Theorie vertritt sogar die Ansicht, Spermien seien deshalb so klein, damit sie keine Bakterien mit sich tragen könnten, um Eizellen zu infizieren. 32 Eine menschliche Eizelle teilt sich unmittelbar nach der Befruchtung mit unerhörter Geschwindigkeit, möglicherweise tatsächlich, um Viren und Bakterien in einem der entstehenden Kompartimente zurückzulassen.
Die zweite Verteidigungsmöglichkeit ist die Sexualität; mehr davon später. Die dritte ist ein Immunsystem, sie aber wird erst von Reptilien an aufwärts eingesetzt. Pflanzen und viele Insekten und Amphibien verfügen über eine weitere Methode, die chemische Verteidigung: Sie produzieren Substanzen, die für ihre Plagegeister giftig sind. Manche Angreifer entwickeln daraufhin Möglichkeiten, diese Gifte abzubauen und so weiter – das Wettrüsten hat begonnen.
Antibiotika sind chemische Verbindungen, die von Pilzen produziert werden, und zwar als natürliche Verteidigung gegen deren Rivalen, das heißt gegen Bakterien. Als der Mensch begann, Antibiotika einzusetzen, stellte er fest, daß die Bakterien mit ernüchternder Geschwindigkeit die Fähigkeit entwickelten, Antibiotika zu widerstehen – resistent zu werden. Bei der Entwicklung von Antibiotika-Resistenzen in krankheitserregenden Bakterien fällt zweierlei auf: Zum einen scheinen die entsprechenden Resistenzgene von einer Art zur nächsten zu
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