Eros und Evolution
Sachverhalt umschreiben: Heterozygotie und Polymorphismus. Beides verliert ein Tier, wenn seine Linie durch Inzucht weitergeführt wird. Sie bedeuten, daß es in der Population insgesamt (Polymorphismus) und in jedem einzelnen Mitglied der Population (Heterozygotie) gleichzeitig verschiedene Versionen desselben Gens gibt. Die »polymorphe« Blau- und Braunäugigkeit der Bewohner der westlichen Welt ist ein gutes Beispiel: Viele Menschen mit braunen Augen haben gleichzeitig auch das rezessive Gen für blaue Augen – sie sind heterozygot. Solche Polymorphismen sind für einen waschechten Darwinisten genauso geheimnisumwittert wie die Sexualität, denn sie bedeuten, daß ein Gen genauso gut ist wie das andere. Denn wenn braune Augen auch nur geringfügig besser wären als blaue (oder treffender, wenn normale Gene besser wären als Gene, die für die Sichelzellenanämie verantwortlich sind), dann hätte ein Gen das andere mit Sicherheit irgendwann verdrängt.
Weshalb um alles in der Welt sind wir dann vollgestopft mit so vielen verschiedenen Versionen unserer Gene? Weshalb gibt es ein so hohes Maß an Heterozygotie? Im Falle der Sichelzellenanämie ist das so, weil das Sichelzellen-Gen dazu beiträgt, den Organismus vor Malaria zu schützen, so daß dort, wo Malaria häufig ist, die Heterozygoten (Menschen mit einem normalen Gen und einem Sichelzellengen) besser dran sind als Leute mit normalen Genen. Die Homozygoten dagegen (Menschen, die entweder zwei normale Gene oder zwei Sichelzellengene haben) leiden unter Malaria beziehungsweise unter Sichelzellenanämie. 36
Dieses Beispiel ist zwar sehr abgegriffen, weil es immer wieder in den Biologie-Lehrbüchern angeführt wird, doch es illustriert anschaulich, daß viele der notorisch polymorphen Gene, zum Beispiel die Blutgruppen-Gene, die Histokompatibilitätsantigene { * } und ähnliche, Einfluß auf die Abwehrkräfte gegenüber Krankheiten haben. Manche dieser Gene sind entwicklungsgeschichtlich obendrein erstaunlich alt. Sie haben seit Äonen Bestand. So gibt es beim Menschen Gene, die bestimmten Genen bei Kühen entsprechen und hier wie da in verschiedenen Versionen vorliegen. Verblüffend ist, daß die Varianten bei den Kühen genau die gleichen sind wie beim Menschen. Das bedeutet, daß Sie, liebe Leserin und lieber Leser, möglicherweise über ein Gen verfügen, das dem Gen einer bestimmten Kuh ähnlicher ist als dem entsprechenden Gen Ihres Partners. Das ist bei weitem verwunderlicher, als es beispielsweise die Entdeckung wäre, daß Fleisch in Frankreich viande heißt, in England meat, wiederum viande in einem isolierten Steinzeitdorf in Neuguinea und meat im Nachbardorf. Hier wirkt irgendeine mächtige Kraft, die sicherzustellen versucht, daß die meisten Versionen eines Gens überleben und daß keine dieser Versionen sich allzusehr ändert. 37 Diese Kraft ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Phänomen Krankheit. Sobald ein »Schloß«-Gen selten wird, wird auchder passende Parasiten-»Schlüssel« selten, so daß dieses Schloß wieder im Vorteil ist. In den Fällen, in denen Seltenheit belohnt wird, pendelt der Vorteil ständig von einem Gen zum anderen und sorgt dafür, daß kein Gen ausstirbt. Auch andere Mechanismen begünstigen die Entwicklung von Polymorphismen: jeder Vorgang, der seltenen Genen einen Selektionsvorteil gegenüber häufig vorkommenden Genen verschafft. Oft sind daran Räuber beteiligt, die seltene Formen übersehen und nur gewöhnliche Formen aussuchen. Geben Sie einem Vogel im Käfig ein paar Futterstückchen, die bis auf wenige grüne alle rot gefärbt sind. Der Vogel wird sehr bald die Vorstellung entwickeln, rote Dinge seien eßbar, und wird grünes Futter zunächst übersehen. J. B. S. Haldane erkannte als erster, daß die Existenz von Parasiten weit stärker als die Existenz von Räubern dazu beitragen könnte, Polymorphismen zu unterhalten – insbesondere dann, wenn der zunehmende Erfolg eines Parasiten beim Angriff auf eine neue Variante des Wirts mit dem abnehmenden Erfolg eines Angriffs auf eine ältere Variante einhergeht – wie dies bei Schloß und Schlüssel der Fall ist. 38 Die Schlüssel-Schloß-Metapher verdient es, genauer betrachtet zu werden. Beim Flachs zum Beispiel gibt es siebenundzwanzig Versionen von fünf verschiedenen Genen, die zur Resistenz gegen einen Rostpilz führen: siebenundzwanzig Versionen von fünf Schlössern. In jedes Schloß passen mehrere Versionen eines Schlüssel-Gens beim
Weitere Kostenlose Bücher