Eros
begreift sie nun
nachträglich, wie oft ihre äußere Erscheinung von entscheidendem Nutzen gewesen
sein muß.
Oder hätte sein können. Das macht sie nicht stolz oder wehmütig, es
desillusioniert sie eher, reduziert alle hochfahrenden Träume, setzt denen eine
geradezu viehische Basis entgegen, als funktioniere die Welt banal aufgrund
entweder monetärer oder geschlechtlicher Geschäfte und Verträge. Etwas in ihr
wehrt sich gegen jene Erkenntnis, verwirft sie als Zynismus, dem man nicht
erliegen dürfe.
Die einzige Beziehung, die ein paar Wochen lang anhält, ist
sonderbarer Art. Ludwig, ein Student für russische Literatur, zweiundzwanzig
Jahre alt, hat sie im Auenwald angesprochen. Er sehe sie hier manchmal
spazieren gehen, ihm gefalle so sehr, wie sie an Wegkreuzen oder versprengten
Blumen stehen bleibe und träume und dabei leicht tänzle. Ob sie eine Tänzerin
sei, ob es Gelegenheit gebe, sie einmal auf einer Bühne bewundern zu dürfen? Es
handelt sich zweifellos um eine originelle und charmante Art der
Kontaktaufnahme, die, weil leicht gestottert vorgetragen, auch keinen
Augenblick schwülstig wirkt oder vorbereitet. Der junge Mann ist groß und
hager, schwarzgelockt und existenzialistisch schwarz gekleidet, kein Schönling,
aber sein schmales bleiches Gesicht wirkt, vielleicht durch das samtene
Halstuch, auf eine schwindsüchtige Weise aristokratisch, ein Wesen von
sentimentaler Decadence, mit dünnem Oberlippenbart. Sofie fallen seine Finger
auf, mit den gut gepflegten Nägeln. Insgesamt ist seine Erscheinung eigenartig
genug, daß für dieses Mal jeder Verdacht, er könne ein Staatsdiener sein,
verpufft. Sofie schweigt, aber der junge Mann bleibt einfach stehen und wartet
auf Antwort. Ohne aufdringlich oder bittstellerisch zu werden. Höflich, die
Hände vor der Brust ineinandergelegt, steht er da, erwartet, ohne sie dreist
anzusehen, Auskunft. Es ist ein warmer Sommerabend.
Man muß sich gegen den Zynismus wehren. Isolation fördert Zynismus.
Sofie, die noch keinen Ton gesagt hat, zieht einen Zettel aus der Hemdtasche,
einen Bleistift und schreibt:
Wir
können uns lieben. Ohne zu reden. Das scheint dem jungen Mann zu
gefallen. Er schreibt zurück:
Wo?
Sie nimmt ihn bei der Hand. Drei schöne Wochen lang besucht er sie
regelmäßig, hält sie für stumm und schweigt selbst auch – gleichsam
solidarisch. Manchmal werden Zettel getauscht. Er erweist sich als unbeholfen
und unerfahren im Bett, kommt stets zu schnell, ist hinterher jedoch bereit,
Sofie ausdauernd zu streicheln und am ganzen Körper zu küssen. Das hat etwas,
bis er ihr – brieflich – offenbart, die Wiedergeburt Dostojewskis zu sein. Ihre
Stummheit habe ihn schwer berührt und für sie eingenommen. Sie sei ein
Leuchtturm, eine fabelhafte Erleuchterin, eine leidenschaftliche Sturmfackel gewesen. Aber jene große, adäquate Gefährtin, die er sich an seine Seite
wünsche, ersehne, die er für eine Existenz als Künstler benötige, müsse fähig
sein, sich ihm wendiger mitzuteilen als umständlich auf Schmierzetteln. Leider.
Es breche ihm das Herz, aber – so lautet Ludwigs Trost – sie werde dereinst in
seiner Biographie die ihr gebührende Rolle zugewiesen bekommen.
Von der Stasi war der Knabe definitiv nicht. Vielleicht
nicht mal von dieser Welt. Andererseits hatte er zwischenzeitlich gelernt,
seine Zunge auf fast optimale Weise einzusetzen, ohne mit ihr Wörter zu formen.
Schade drum. Sofie grinst. Es ist nicht schlimm, sie hat ihn nicht geliebt. Nur
benutzt, wie Männer Frauen benutzen, nicht lieben. Jetzt versteht sie Männer
besser. Immerhin, denkt sie, wenn Ludwig der wiedergeborene Dostojewski ist,
bin ich sinnvoll gewesen. Als Erleuchterin und Sturmfackel. Vielleicht ist Ludwig in Wahrheit Fjodor, wer weiß das schon. Sie hört nie wieder etwas von
Ludwig und ertappt sich bei einem gefährlichen Gedanken: Nichts sei sicher,
jeder Mensch könne sterben und darauf hoffen, daß sein Potential posthum zur
Geltung käme, alles tatsächlich Gelebte radikal umschreibe. Ob das eine Form
der letzten Tröstung ist, oder eine Spielart der allerletzten Verarschung? Der
Gedanke, hier und heute sich selbst endgültig nicht verwalten, als geglückt
oder gescheitert ablegen zu dürfen, über den Tod hinaus Spielball bleiben zu
müssen, ist ein Hornissenstich in ihren Stolz. Das Leben soll groß sein,
durchaus, doch überschaubar, das auch. Mit gesundem Menschenverstand zu
bewältigen. Oder ist der Menschenverstand per se nicht
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