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Eros

Eros

Titel: Eros Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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gesund?
    Manchmal möchte ich leben und alles überschauen dürfen, mit mir darin.
    Majorin Schultze, die einzige Person, bei der Sofie sich
ab und an ausweint, wird nach Magdeburg versetzt und bricht den Kontakt
übergangslos ab. Der Nachfolger, Hauptmann Horst Endewitt, markiert den
verbohrten Bürokraten, dem der Casus Inge Schulz unangenehm und dubios
erscheint. Endewitt läßt sich selten blicken, bleibt stets sachlich, und wenn
er mit seiner heiseren Stimme oft gehässig wirkt, so versucht er doch erst gar
nicht, eine Betreuung auf menschlicher Ebene auch nur vorzutäuschen. Zudem ist
einer seiner hervorstechendsten Züge jener, sich strikt an den Buchstaben des
Gesetzes zu halten. Was zur Folge hat, daß Sofies Wohnung nur noch bei
ausreichendem Verdacht einer republikfeindlichen Agitation durchsucht wird,
also fast gar nicht mehr. Die Tagebücher seit Mai ’83 sind aus diesem Grund
verlorengegangen. Über Inge Schulz ist Gras gewachsen, genau so fühlt sie sich
manchmal.
    Das Aquarium bereitet ihr nur noch wenig Freude, jedoch fühlt sie
sich ihren Fischen gegenüber in der Pflicht und beginnt mit ihnen zu reden. Die
Fische nehmen es kommentarlos hin.
    Bei der Museumsleitung ist Inge beliebt, weil sie freiwillig alle
Feiertage übernimmt. Manchmal, vielleicht drei, vier Mal im Jahr, erhält sie
nachts Besuch von ihrem Amtsvorgänger, so auch in der Silvesternacht 1982. Der
sehr viel älter als siebzig wirkende Greis ist alleinstehend wie sie, es zieht
ihn an den alten Arbeitsplatz zurück, er geht mit ihr durch die Hallen,
erläutert manch Wissenswertes zu den Gemälden, die sie mit zwei Taschenlampen
anleuchten. In jener Silvesternacht wird er zudringlich, fordert Inge ein
Küßchen ab. »Sei lustig, was ist denn dabei? ’N Küßchen unter Kollegen!« Inge
weist ihn in die Schranken, der Pensionist rächt sich mit dem Satz: »Ach komm,
soviel älter als du bin ich gar nicht.«
    Jene Gemeinheit trifft Inge Schulz sehr viel härter, als er es
vorgehabt hatte. Sie begreift, daß das Leben an ihr vorüberzugehen droht.
Ergebnislos und irreversibel. Das mühsam errichtete Gebäude ihres Selbstbetrugs
gerät ins Wanken. Den Greis schmeißt sie hinaus, was ihr leid tut, eigentlich
war er die meiste Zeit nett, und ein Küßchen hätte sie ihm schon gönnen können.
    Ein paar Tage später telefoniert sie mit Endewitt.
    »Ich will was Vernünftiges tun. Ich bin hier lebendig begraben. Die
Bilder kommen gut ohne mich aus.«
    »Im Museum ist man sehr zufrieden mit Ihnen. Frohes Neues!« Endewitt
wirkt, gelinde gesagt, wenig interessiert.
    »Ich kann doch noch was lernen … Irgendwas. Nützliches.«
    »Haben Sie wieder angefangen zu trinken?«
    »Nein … Wieso? Nur ganz wenig. So wie jeder …«
    »Ist kein Problem. Trinken Sie! Von mir aus!«
    So endet das Gespräch, weil Inge auflegt.
    Im Aquarium treiben tote Fische. Erhalten eine Art
Seebegräbnis im Klosett. Inge Schulz betrinkt sich folgsam in einer Kneipe, in
der nach 22 Uhr jenseits der Schnäpse nur Herrengedecke serviert
werden, was bedeutet: ein Glas Sekt plus ein Pils. Vielleicht soll damit ein
gewisses Niveau an Kundschaft erreicht werden. Vielleicht sollen so auch
Einzelgäste zu Pärchen zusammengeführt werden, damit der eine das Bier trinkt,
die andere den Sekt. Dann müßte es doch Pärchengedeck heißen?
Sofie beschließt, sich vom erstbesten Notgeilen in dessen Klitsche abschleppen
zu lassen, für das Gefühl, gebraucht zu werden. Sie stellt sich das sogar
aufregend vor. Doch was an diesem Abend in der Postkutsche so herumhockt,
ist entweder indiskutabel oder zeigt an ihr kein Interesse.
    Als sie sich gegen drei Uhr auf dem Heimweg befindet (weit
und breit kein Taxi, natürlich, das wäre ein enormer Zufall, ein Taxi hätte sie
Stunden vorher bestellen müssen – warum ist das eigentlich so? Was hat
Sozialismus mit Taxis zu tun? Manche Sachen begreift sie einfach nicht. Daß es
die überaus beliebten Schwarztaxis gibt, fällt ihr während all der Jahre nicht
auf), beschwipst, und auf dem langen Weg in die Vorstadt den Daumen raushält,
wenn ein Auto vorbeikommt (andererseits – man wird schnell mitgenommen und
fährt dann umsonst. Vielleicht gibt es deshalb so wenige Taxis und man wird
schnell mitgenommen, weil es keine Taxis gibt, die Schlange, die ihren Schwanz
hinunterschlingt, kann bis auf wieviele Zentimeter ihrem eigenen Nacken
näherkommen? Mathematische Probleme, nachts um drei, betrunken, am
Fahrbahnrand.), hält ein Lada, der Mann

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