Eros
winkt sie hinein. Fragt nicht, wo sie
hinwill. Das muß sie doch mißtrauisch machen, tut es auch, aber da rollt der
Wagen schon.
»Wo muß ich denn hin? Du weißt doch das gar nicht.«
Der Mann, etwa dreißig, in Lederjacke und Russenmütze, steckt ihr,
ohne den Blick von der Fahrbahn zu wenden, eine Zigarette zwischen die Lippen.
Er trägt einen gepflegten Bart, seine Nase ist breit, die Lippen wulstig, viel
mehr als einen Scherenschnitt kann sie nicht erkennen. »Ich fahr dich, wohin du
willst.«
»Warum fragst du dann nicht, wo ich hin will?«
»Mußt es doch bloß sagen.«
»Ich muß nach Grünau.«
»Dann fahren wir da hin«, sagt der Mann.
»Aber das tun wir ja bereits. Wir fahren nach Grünau. Genau und
justamente.«
»Dann ist doch alles gut.«
Und mehr wird nicht gesprochen. Der Lada hält vor ihrer Platte.
Wahrscheinlich müßte sie jetzt danke sagen. Sie will nur nicht.
»Schaffst du die Treppe? Soll ich noch mit rauf kommen?«
Wahrscheinlich bildet sie es sich nur ein, aber der Mann lächelt,
während er das anbietet, auf widerliche Art.
»Nein, danke.« Jetzt hat sie das Wort doch noch über die Lippen
gebracht, ohne sich viel zu vergeben damit.
Der Mann murmelt etwas, sie versteht ihn nicht, was könnte er gesagt
haben? Du Schaf
bist bald raus? Hat er das gesagt? Mit dem rechten Stiefelabsatz
schon im Gehsteigschnee wendet Sofie den Oberkörper zurück, eine bemerkenswerte
Kraftanstrengung.
» Was haben Sie gesagt?«
»Dann schlaf dich mal aus.«
Tagsüber steht Sofie gerne auf einer Brücke und starrt auf
das langsam vorübertreibende Wasser. Besonders mag sie den Anblick, wenn dünne,
tausendfach zerborstene Eisschollen etliche linealgerade Bruchkanten aufweisen
und so zersplitterten Fensterscheiben ähneln, mal hellgrau, mal silbern
schimmernd, da und dort auch bläulich bis türkis oder fast schwarz, die
Farbpalette implodierter Bildschirme.
Es wird Frühling, und wie bei so vielen depressiven
Menschen wirkt das Grünen und Keimen allumher nicht etwa stimmungshebend, im
Gegenteil, ihr ist, als könne sie mit dem Zyklus der Jahreszeiten nicht länger
schritthalten, bliebe ein häßliches Winterrelikt, von dem sich empfindsame
Menschen abgestoßen fühlen müssen.
Was bin ich? Eine am Leben gescheiterte Frührentnerin, die sich mit
ein paar Erinnerungen eine erwähnenswerte Vergangenheit vorgaukelt. Naja.
Immerhin. Ein bißchen was war los. Wenn nur jemand vorhanden wäre, dem sie
alles erzählen könnte. Irgendwann wird das Leben abgelöst vom Erzählen, aber
wenn da niemand ist, dem man erzählen kann, der zuhört.
Wie schön das wäre, zu jemandem sagen zu können: »Weißt du noch?«
Meine Güte, ich denke wie eine alte Frau.
Just in diesem Moment, der sie zum Selbstmord einlädt, ja
drängt, erkennt sie vor dem Hauptbahnhof einen Mann, der unterm Dach der
Trambahnhaltestelle sitzt und Zeitung liest. Ist er das? Es scheint so. Ja
doch. Sieben Jahre älter, gereifter, steifer, dicker. Kann er das denn sein? Sie
hat nie Sympathie für ihn empfunden, aber ein vertrautes Gesicht aus lange
zurückliegender Zeit wirkt zu verlockend. Sie schlägt alle Direktiven in den
Wind und spricht ihn an.
»Jacob?«
Der Mann sieht zu ihr auf. Lupft seine Lesebrille, verengt die
Augen. Flüstert:
»Sofie?«
Wie gut es ist, ihren Namen zu hören, ihren wahren Namen.
»Jacob. Was machst du denn hier?«
Jacob weiß nicht so recht, was er sagen soll. Er sieht sich nach
rechts um, nach links, räuspert sich, faltet die Zeitung zusammen.
»Hörma … wir sollen untereinander keinen Kontakt haben.«
»Wir zwei?«
»Alle, die rüber sind.«
» Alle? Wieviel sinds denn?«
»Einige. Hat Schule gemacht, dein Beispiel. Ich heiße jetzt Moritz.
Moritz Müller.«
»Inge Schulz. Hast du Zeit?«
»Wofür?«
»Ich muß mal wieder mit jemandem reden können, der weiß, wer ich
bin. Damit ich es selber nicht vergesse.«
»Ungut, hier. Wie gehts dir so?«
»Beschissen. Wo wohnst du? Was machst du?«
»Hmm.« Jacob zieht die Brieftasche hervor, zeigt ihr stolz ein Foto.
»Das ist meine Frau. Hab ich im Kombinat kennengelernt. Ich bin jetzt
Repro-Fotograf. Kein schlechter Job. Das ist unser Kleiner. Das Zweite kommt
nächsten Monat. Ich kann dich nicht mit zu mir bringen, verstehste doch?«
»Ich wohn am Stadtrand, in Grünau. Kommst du mich mal besuchen?«
Jacob zögert, wirkt von der Idee nicht gerade hingerissen.
»Hörma … laß die Vergangenheit ruhen. Bringt nix.«
»Ich hab nur die
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