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Eros

Eros

Titel: Eros Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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Schlaff und apathisch saß ich und spürte ein
Zittern im Rücken, das war nicht ich, das war die Bordwand, gegen die ich
lehnte. Ich befand mich im Inneren eines Transportflugzeugs. Menschen, alle in
Zivil, hockten oder lagen neben mir, mir gegenüber, in Decken gehüllt. Ich kann
mich erinnern – an Flüche, Beschwörungen, an das Brummen der Motoren. Menschen,
die nach oben sahen, den Nacken gegen die Wand gelehnt.
    »Ich will aber nicht hierbleiben!« Das war wieder Lukian.
    »Noch ein paar Tage, und alles ist vorüber. Vorüber.«
    Wir befanden uns, vermute ich, auf dem kleinen Rollfeld von
Krauß-Maffei. Das Brummen wurde stärker, verband sich mit einem Rumpeln, einer
druckvollen Bewegung hinein in meinen Bauch und meinen Nacken, das Flugzeug
schlingerte hin und her und hob ab. Ich kann mich nicht genau daran erinnern.
Mein erster Flug. Und ich sah, oder glaubte, daß alle Mitreisenden tot waren,
tote Menschen, vielleicht noch nicht ganz tot, aber beinahe. Acht oder zehn
Passagiere, sie wirkten alle bleich und gesichtslos, auch die beiden Frauen in
ihren lächerlichen Pelzen. Eine trug mehrere Ketten um den Hals und weinte.
Dann lachte sie. Und stopfte drei Knöchel ihrer Finger in den Mund. Jemand
beruhigte sie mit einem Kuß.
    Eine der letzten Werksmaschinen hinaus. Keferloher mußte entschieden
haben, daß ich den freien Platz einnehmen sollte statt seines eigenen Sohnes.
Aber wozu? Und wohin? Ohne irgendwelche finanziellen Mittel, nur mit den
Sachen, die ich am Leib trug, Kleidungsstücke von Lukian, die mir nur annähernd
paßten. Er war selber noch ein halbes Kind damals und wollte sich nie an jene
Nacht erinnern, behauptet, er habe nichts Genaues gewußt. Der Flieger sei nach
Oberitalien bestimmt gewesen, wo man in relativer Sicherheit – die Front bei
Bologna lag praktisch still – eine größere Maschine hätte besteigen können,
oder, mit vatikanischen Pässen, von Genua aus ein Schiff rüber nach Südamerika,
ins vorbereitete Exil. Das Brummen der beiden Propeller hatte etwas
Beruhigendes. Ich dachte nicht darüber nach, was mit den Eltern, was mit den
Schwestern geschehen war. Als hätte es sie nie gegeben. Viel später erfuhr ich,
daß die Leichen im Eispalast alle so stark verbrannt waren, daß niemand deren
wahre Todesursache bemerkte. Die Reputation meiner Familie litt keinen Schaden.
Für Obduktionen gab es keine Zeit. Man nahm an, ich läge verschüttet unter den
Trümmern, immerhin wurde ich als vermißt geführt, nicht als tot , weniger aus
Optimismus denn aus Gründen gewissenhafter deutscher Bürokratie.
    Dies ist, was ich weiß. Danach klafft eine große Lücke. Aufgefüllt
mit Träumen, mit einzelnen in der Nacht verirrten Lichtern. Ich war nicht mehr
von dieser Welt. Greller Lichtschein. Ein lauter dumpfer Schlag gegen die
Bordaußenwand. Sofortiges Schwarz. In ganz weiter Ferne Stimmen – Angst,
Schmerz, Getriebegeräusche, Wind – ein feiner, dicht gewobener Geräuschteppich,
ein Durcheinanderwuseln von Klängen und Lärm. Eine Wiese. Früher sonniger
Morgen. Ein lichter Laubwald. Meine Kleider angesengt, stellenweise zerrissen.
Blut an der Stirn. Oder war das mein Vater? Nein, sein Gesichtsausdruck ist
leer, entleert, entrückt, meiner ist voll Blut, Papa verschwindet in die
Wolken, ich bin allein. Acker, da drüben, Brachäcker, alles ist arkadisch
überhöht, überbelichtet.
    Ich nahm nur gestauchte Ränder von alledem wahr, ein breiter Fluß,
in dem die Sonne sich so grell spiegelte, daß es in den Augen und bis in den
Hinterkopf hinein weh tat. Ich war taub, stocktaub. In mir ein Zirpen, ein
Bohren und Reiben, ein Scharren, ein Wummern, tiefe Frequenzen. Veränderte
Farben. Der Fluß entscheidet sich für ein kräftiges Rotbraun, das Wasser ist
mal schwarz, mal lila, dann hellgolden, silbern der Kies, giftgrün die
Uferfauna. Und das ist das letzte, an was ich mich erinnere. Ich gehe neben dem
Fluß her. Über dem glitzernden Wasser eine Vision aus Licht und schwachen
Konturen, ein Wesen aus Güte und Liebe und enorm viel Haupthaar: Er war
da. Empfing mich und lächelte. Dürer sah auf mich herab.
    Nachhall
    Beim Abendessen im ersten Stock, in einer gemütlichen,
pseudorustikal-altdeutsch ausstaffierten Stube mit knackendem Kachelofen, waren
wir zu zweit. Es gab keine zu protzige Kost, nur Spargelsuppe, leichte
Gemüse-Pasta, ein Fleischgang, Obst und Käse, zweierlei Wein, Kaffee, er bevorzugte
heiße Milch, dazu wurde ausgiebig geschwiegen. Von Brücken hatte den ganzen

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