Eros
fast nichts. Warum?«
Von Brücken nickte, sah an sich hinab und hob die Hände zu einer
Geste, die um Verzeihung bat. »Erstens: das mit dem Flugzeug ist eine pikante
Angelegenheit. Ich war keineswegs der einzige Überlebende. Diese Leute hatten
diverse Gründe zu fliehen, manche flohen wohl vor den Nazis, manche waren
vielleicht selber welche, Spekulationen darüber stehen mir nicht zu. Zweitens:
Sie sollen einen Roman schreiben, nicht meine Biographie. Wenn der Fischer Ihnen zu pittoresk ist,
machen Sie einen Töpfer daraus, völlig egal.
Drittens: An vieles erinnere ich mich selbst heute noch nicht oder
habe es verdrängt. Diese Jahre waren eine ekelhafte Zeit. Ich weiß, daß Sie in
Ihren Büchern gerne mit dem Ekel spielen. Dagegen wäre nichts zu sagen. Aber
diese Jahre waren vor allem: eine Zeit ohne Sofie. Deshalb sind sie nicht
wichtig. Verlorene Jahre.«
Eine lange Stille entstand. Er war der Auftraggeber,
ganz klar. Was solls, dachte ich, er wird sterben, ich werde schreiben. Werde
alleine entscheiden, was wichtig ist und was nicht. Später allerdings verstand
ich vieles besser. Und verzichtete darauf, dem Material mehr als unbedingt
nötig hinzuzufügen.
Von Brücken schlug eine Kaffeepause vor. Er selbst könne
keinen Kaffee mehr vertragen, leider, mir aber täte er sicher gut.
»Wenn Sie glauben, Ihre Phantasie würde von mir an der kurzen Leine
gehalten, täuschen Sie sich. Es warten so viele blinde Flecken, auf deren Böden
Sie Ihre Gewächse anbauen können, sogar müssen …«
1949/50
Wuppertaler Winter. Eingetrübter Nachmittag, dünne Kleckse
Licht im Himmel. Es herrscht jene fast jenseitige Spätdezember-Stimmung, kalt
und graugelb, am Rande des Horizonts gilbig und lila, die von gewissen Seelen
als dennoch anheimelnd, auf angenehme Weise melancholisierend empfunden wird.
Eine lange Reihe kahler Pappeln steht Posten auf der Anhöhe über dem Tal, durch
das heulend ein Kohlenzug fährt. Vorschulkinder bauen aus schon Harsch
gewordenem, starrgefrorenem Schnee einen Schneemann mit Ecken und Kanten.
Andere toben am Lattenzaun entlang. Die Kindergärtnerin mit den wehenden Haaren
raucht. Filterlos.
»Dürfen wir ne Schneeballschlacht machen, Fräun Kramer?«
»Seid nicht zu wild, ja?«
Die Kinder bilden Mannschaften. Hinter das junge Fräulein Kramer
tritt eine wesentlich ältere Kindergärtnerin mit Kopftuch.
»Schneeballschlachten sollten Sie nur erlauben bei frischem, weichem Schnee.
Nicht bei Eis und nicht bei Harsch. Verstanden?«
Fräulein Kramer nickt. Jetzt muß sie den Kindern verbieten, was sie
ihnen eben noch erlaubt hat. Wie hört sich das an?
Abends wird sie mit ihrem ersten Gehalt im Café sitzen,
Zeitung lesen, ihre beste Freundin treffen und schwarzen Tee trinken, mit
soviel Zucker, wie sie will, den gibt es jetzt wieder umsonst.
Die Freundin wird ihr einen schon Monate alten Zeitungsausschnitt
reichen, mit der knallrotgefärbten Titelzeile: Totgeglaubter Firmenerbe zurückgekehrt.
Sofie wird das Bild in die Hand nehmen, es sich kurz ansehen, auf
den Tisch legen und Birgit fragen: »Wozu zeigst du mir das?«
Birgit wird behaupten, daß er ganz gut aussehe, auf dem Bild. Sofie
wird antworten, das sei alles so weit weit weg, aber natürlich freue sie sich
für ihn.
»Na hör mal«, wird Birgit nachhaken, »er war dein erster Kuß. Das
bleibt.«
»War nur für Geld. Das zählt nicht.«
Sofie wird viele Stücke Zucker in den Tee werfen. Und noch eines.
Birgit wird erzählen, wie es ihr an der Uni ergeht. Sie wisse jetzt langsam, wo
sie wann sein müsse. Die Naziproffen seien auch alle wieder da. Sagenhaft, das
Unkraut. Un-aus-rott-bar.
Studieren müsse toll sein, wird Sofie seufzen, gleich darauf wird
sie sagen, wie um vorauseilend eine noch nicht gestellte Frage zu beantworten:
»Ich konnte deinen Eltern ja nicht länger auf der Tasche liegen.« Und ein
Schnütchen wird sie dazu ziehen, daß Birgit Angst um sie bekommt, sie an der
Schulter berührt.
»Schwesterchen, was denn? Ich dachte, du bist glücklich im
Kindergarten.«
»Hab ich denn eine andere Wahl?«
»Aber, aber … das ist ja das erste, was ich höre! Du magst doch
Kinder. Du bist doch quasi geboren für den Beruf.«
Sofie wird sich eine Zigarette anzünden und fragen: »Ja? Echt? Steht
das in meinem Paß? Wofür ich geboren bin?«
Birgit wird sich laut schnaufend zurücklehnen, wird diesmal keine
Lust haben, auf Sofies Launen einzugehen. Alles in allem hat Sofie doch Glück
gehabt, relativ viel
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