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Eros

Eros

Titel: Eros Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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zwei
Dutzend Zuhörern in einer schlecht geheizten Baracke hinter dem Kottbusser Tor
hockt Henry. Er möchte von der hübschen Diskussionsleiterin profitieren, das
ist ihm klar, noch bevor er das erste Wort aus ihrem Mund gehört hat.
    Neben den vielen jungen Mädchen, die sich plötzlich für das
politische Geschehen interessieren, fühlt sich Sofie bereits an der Grenze
ihrer Jugend. Henry aber ist siebenundzwanzig und schreit ihr seine Geilheit
ins Gesicht, was sie auf angenehme Art verwirrt. Er trägt Leder, macht auf
harten Typen mit weichem Kern. Sofie fühlt sich bald zu ihm hingezogen, schon
durch die Art, wie er sie anpackt, wie er zugreift.
    Vielleicht ist es ihr tiefliegendes Minderwertigkeitsgefühl, das ihr
den muskulösen, geistig etwas schlichten, doch offenbar sehr ehrlichen (»Ich
will dich!«) Kerl attraktiv erscheinen läßt.
    Anfang März, in Sofies Schlafzimmer angelangt, präsentiert Henry
seine frischen Tätowierungen. Marx auf der linken, Engels auf der rechten
Schulter. Sofie findet das naja, aber – warum eigentlich nicht? Ihre
ästhetische Stellungnahme ordnet sich der rein ideologischen unter. Dann wird
sie gevögelt, bis es ihr vorkommt, als sei sie zuvor noch nie gevögelt worden,
oder allenfalls ansatzweise, angedeutet, provisorisch, im Schongang. Henry
kommt über sie wie ein Sturm über wehrloses Land. Das ist mit Rolf nicht direkt
vergleichbar. Erst recht nicht mit den drei kurzen Affärchen, die sie seither
hatte. Sofie erlebt die Ekstase eines (regelmäßigen!) multiplen Orgasmus, dagegen
läßt sich schwer etwas ins Feld führen. Weder, daß Henry keine eigene
Zahnbürste besitzt, noch, daß er billigstes Dosenbier trinkt, laut rülpst und
Beethoven nur von einem Chuck-Berry-Song kennt. Er neigt zur Gewalt, die sich
anfangs allein auf Demos entlädt. Mit Inbrunst sucht er die Eskalation, wirft
den jeweils ersten Pflasterstein. Überredet Sofie, ebenfalls einen zu werfen,
das würde ihrer Seele helfen, sich von kleinbürgerlichen Hemmungen zu befreien.
Kleinbürgerlich und gehemmt will sie sich nicht schimpfen lassen, probiert es
schließlich aus, wie ihren ersten Lungenzug aus einem Joint. Der Stein legt
kaum zwanzig Meter zurück, verletzt niemanden – und doch existiert von jenem
Moment an ein Polizeifoto, das Sofie beim Steinewerfen zeigt. Auf ihrem Gesicht
liegt eine scheue Grimasse, der mundoffene Ausdruck eines
Sich-Selbst-Nicht-Ganz-Geheuer-Seins. Sie lernt durch Henry eine Facette ihres
Wesens kennen, die ohne ihn wohl kaum je den Weg in die Wirklichkeit gefunden
hätte. Der Frühling ist eine Regelverletzung, eine Grenzüberschreitung, ein
Spaß, ein Fest und sehr sehr guter Sex.
    Den Henry nicht nur mit ihr hat. Er fickt, was immer er an Treibgut
erwischen kann. Vorwürfe deswegen verlacht er als bourgeoise
Repressionsversuche. Es kommt die Zeit, da Kommunen gegründet werden, in der
jeder mit jeder schläft, nach Rundenplan. Sofie findet das abstoßend, äußert es
aber nie deutlich, befürchtet, als bieder zu gelten. Und alt.
    Ihre Eifersucht erweist sich indes als vernachlässigenswerte Größe
gegenüber der Eifersucht Henrys, sobald der den Verdacht hegt, sie habe einem
anderen nur eine Zehntelsekunde zu lang in die Augen geguckt. Dann neigt er zu
rabiatem Gebrüll, welches Sofie gnädig als Zeichen seiner Liebe zu deuten
bereit ist. Der Frühling 67 entschuldigt sehr vieles.
    Sie müssen sich vorstellen, wie das war – die Welt tobte,
tanzte, mischte die Karten scheinbar ganz neu, und ich – ich saß eskapistisch
und deprimiert auf meinem Schloß, mußte mir berichten lassen, daß meine
Geliebte an einen tätowierten Biertrinker geraten war und nächtens
besorgniserregende Lustschreie absonderte. Das Gefühl des Ausgestoßenseins –
wissen Sie, ich hätte innerlich zu dieser Revolution stehen können wie auch
immer, es wäre mir nicht erlaubt gewesen, daran teilzunehmen, einfach, weil ich
zuviel Geld und Macht besaß. Na gut, ich hätte Geld und Macht aufgeben können,
dennoch wäre mir nie geglaubt worden, so wie ich im Innersten nicht an diese
Revolution geglaubt habe. Aber wie neidisch ich gewesen bin, wissen Sie, ich
war mir sicher, daß diese trunkene Phase nicht lange anhalten würde, aber diese
Phase war nunmal da, war vorhanden in ihrer Besoffenheit, und etliche Menschen
zogen ein unbezweifelbares Glück daraus. Gott, hab ich mich angekotzt. Was war
mein Reichtum eigentlich wert, wenn er mir alle jene Orgien und Ekstasen
vorenthielt, die diese Jugend

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