Eros
Wehr
setzen würde. Er habe einen anderen Vorschlag.
In dieser Stunde wird ein Modell geboren, das künftig Schule machen
soll.
Ausweg. Kein Ziel
»Luki hat Ihnen das Stasi-Material gegeben?«
»Ja.«
»Gut. Na schön. Man muß an die Sache wohl wie ein Historiker herangehen.
Jede Information, selbst eine verfälschte, ist besser als keine.
Selbstverständlich habe auch ich ein wenig recherchiert. Die beiden
schwerverletzten Verkehrspolizisten haben wie durch ein Wunder überlebt. Sie
mußten seitdem nicht mehr arbeiten, dafür habe ich gesorgt.«
Anderntags wird der Opel Commodore aufgegeben. Jacob ist
zurück bei der Gruppe, hört sich massive Beschwerden über Sofie an. Sie habe
mit einer Pistole auf ihre Genossen gezielt und krudes Zeug gestammelt. Nur
weil sie die Nacht ohne Alkohol habe verbringen müssen, mache sie jetzt einen
relativ klaren Eindruck, wenngleich sie zittere. Jacob hat einen BMW
mitgebracht, mit dem er die Gruppe nach Hamburg fahren will, zur
Neuorientierung. Sofie läßt er an einem Provinzbahnhof aussteigen, händigt ihr
eine geringe Summe Reisegeld aus, verlangt ihre Waffe.
»Ich hab keine Waffe.«
Jacob glaubt ihr, nutzt jedoch den Anlaß, sie am ganzen Körper
abzutasten, das wollte er schon immer mal.
»Du fährst nach Braunschweig.«
»Wozu?«
»Order.« Er überreicht ihr ein Kuvert. »Mehr weiß ich auch nicht.
Nimm den Zug. In Braunschweig wirst du neu eingeteilt.«
»Ist das ein Abschied für immer?«
»Keine Ahnung.« Jacob überhört die Doppeldeutigkeit der Frage. »Sag
bloß, du bist traurig?«
Sofie gibt keine Antwort, nimmt das Kuvert und sieht sich nicht um.
Der BMW rast davon. Im Kuvert steckt ein neuer Paß, dessen Inhalt es auswendig
zu lernen gilt. Dazu der Schlüssel für die Braunschweiger Zuflucht. Sie nimmt
den Zug, löst beim Schaffner eine Fahrkarte nach und starrt aus dem Zugfenster.
Es hat zum ersten Mal im Jahr geschneit.
Der Stützpunkt Braunschweig besteht aus einem einzigen
großen, beinahe leeren Zimmer mit Küche, im sechsten Stock eines
abgewirtschafteten Mietshauses. Die Rolläden sind geschlossen. Sofie öffnet
beide, läßt Luft und Licht herein. In der Badewanne liegt ein Koprolith
menschlichen Ursprungs. Alte Matratzen stehen an die Wand gelehnt. Der
Küchenschrank enthält drei Dosen Ravioli und einen Pfefferstreuer, dazu eine
Packung Teebeutel. Sofie entdeckt unter der Spüle ein quadratisches Paket,
ungefähr von der Größe einer Hutschachtel. Hält es in der Hand. Stellt es
wieder hin. Das Telefon klingelt. Sie geht ran.
»Ja?«
»Hast du das Paket gefunden?« Es ist die Stimme Jacobs.
»Hab ich.«
»Öffne es.«
»Hab ich schon.«
»Öffne es!«
»Woher weißt du, daß ichs noch nicht geöffnet hab?«
»Es ist ein Befehl!« Jacob legt auf.
Es bricht die Nacht herein. Sofie und das Paket sehen sich
gegenseitig an.
Sie schreibt ein Testament, ein persönliches, das allerdings kurz ausfällt,
weil sie nichts zu vermachen hat, und ein politisches, das sie aber zerreißt.
Politische Testamente sind was für Leute vom Schlag eines Hitler oder Goebbels. Ich bin nur
Sofie. Eine Marginalie in der Geschichte des Klassenkampfs .
Klingt doof. Kein Mensch ist eine Marginalie. Sie öffnet eine Dose Ravioli,
erwärmt den Inhalt und kotzt die Mahlzeit wieder aus, was nicht ausschließlich
an den Ravioli liegt.
Sie erfährt, was Sokrates gefühlt haben muß, den
Schierlingsbecher vor sich. Sieht BILD-Schlagzeilen voraus: »TERRORISTIN
SPRENGT SICH BEIM BOMBENBASTELN SELBST IN DIE LUFT!« Und darunter, in kleinerer
Schrift: »ES TRAF MAL DIE RICHTIGE.«
So geht das Leben also vorüber, immerhin mit einem Paukenschlag.
Sofie schreibt etliche Briefe, einen an Birgit, einen an Rolf, einen
auch an Lukian. Und zerreißt sie alle. Einmal in jeder Stunde beschließt sie zu
fliehen. Ihre Barschaft beträgt keine hundert Mark, aber das ließe sich, denkt
sie, schon irgendwie aufbessern, eine Bank kann sie machen, mit einer Spielzeugpistole,
und für den äußersten Notfall ist sie immer noch – eine Frau. Erschüttert von
der Feststellung, wie wenig ihr geblieben ist. Soll es das nun gewesen sein?
Das Paket. Jeden erwartet es irgendwann. Das volle Paket. Niemand
kann dem entgehen.
Ob heute, ob morgen, was tut’s? Vielleicht haben die Genossen ja
recht? Durch das Zimmer flüstern Stimmen, die sagen, es sei schon gut so, es
sei das Beste so, sie müsse das Beste draus machen, keine pathetischen Briefe
schreiben und Testamente, das sei der Sache
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