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wurden.
Csongor vermutete, dass der Boden hier genau das falsche Gefälle aufwies. Es war so sanft, dass sich bis in eine beträchtliche Entfernung von der Gezeitenlinie gefährliche, felsige Untiefen erstreckten, was für Schiffe eine Todesfalle bedeutete, und doch so steil, dass es oberhalb der Wasserlinie schwierig war zu bauen. Und so bewegten sie sich, obwohl sie mit einer quälend langsam erscheinenden Geschwindigkeit vorwärtskamen, innerhalb von vielleicht fünf Minuten von einem Ort, an dem zehntausend Augen sie sehen konnten, zu einem, wo sie vollkommen unsichtbar waren. Die unterschiedlich schnell erodierenden Gesteinsschichten streckten lange knochige Finger ins Wasser, voneinander getrennt durch tiefe, beschattete Einschnitte, und darüber erhob sich der Hügel ohne irgendwas von Menschenhand Gemachtes außer einem Funkturm auf dem Gipfel.
Nach einer weiteren halben Stunde wurde deutlich, dass sie sich um das untere Ende der Insel herumgearbeitet hatten und jetzt an ihrer östlichen Seite entlangblickten. Zwischen den beiden Hügeln an den Enden dehnte sich wie ein Segel, das zwischen zwei Spieren gespannt war, ein langer, vollkommen verlassener Strand. Kleine Mengen eines stark erodierten Gesteins waren an manchen Stellen darüber verstreut, aber im Wesentlichen war er eine nahezu ebene Fläche aus Sand, den eine Brandungsströmung hatte fallen lassen, als sie über die Landzunge stolperte, die sie gerade umfahren hatten. Oberhalb davon erhob sich eine Düne, die von niedriger grüner, mit gelben Blumen durchsetzter Vegetation zusammengehalten wurde und mit Müll übersät war, der anscheinend wahllos vom oberen Rand des Felshügels hinuntergeworfen worden war. Dort sahen sie nämlich eine wirre Silhouette aus niedrigen, an den Felsen geschmiegten Häusern, die, wie ihnen jetzt klar wurde, nur die andere Seite der einzigen Stadt auf der Insel war. Sie hatten die Insel halb umrundet und blickten jetzt auf die Rückseite der Stadt, die sich hier vor Unwettern aus dem Südchinesischen Meer duckte.
Die beiden zogen das Boot auf den Strand, der eher mit Meeresabfall gespickt war, und ließen es zwischen zwei halb verwitterten Felsbrocken zurück, wo es vielleicht etwas weniger auffiel. Csongor setzte sich in der Nähe neben einen Felsen, benutzte den Schirm als Schattenspender und wartete in der Hoffnung, dass Marlon bald zurückkäme und niemand auftauchte, um ihn zu fragen, was er hier überhaupt zu suchen habe. Marlon wanderte, mit etwas Geld aus Iwanows Tasche versehen, in die Stadt hinauf und kehrte eine halbe Stunde später mit zwei Packs in Folie eingeschweißter Wasserflaschen und Nudelsuppe in Styroporschalen zurück, die zwar schon lauwarm, für Csongor aber äußerst zufriedenstellend war. Marlon hatte bereits gegessen, sodass jetzt er sich in die Riemen legte und das Boot wieder in Richtung Süden ruderte, während Csongor sich den Bauch vollschlug. Bei ihrer ersten Umfahrung des südlichen Endes der Insel waren ihnen ein paar tiefe Einschnitte in den Felsen aufgefallen: Wasserkorridore von weniger als zwei Metern Breite, wo weiche Gesteinsschichten von den Wellen ausgehöhlt worden waren. Da es später Nachmittag war, lagen sie bereits tief im Schatten. Die beiden Männer ruderten das Boot in einen davon und ließen sich von einer heranrollenden Welle so weit vorwärtstragen, bis ihr Kiel auf das Bett aus Kies und Strandgut rutschte, das diese Spalte zu füllen versuchte. Hier war es kühl, und sie fühlten sich unsichtbar und sicher. So sehr, dass sie beide jetzt fast von einem ungeheuren Schlafbedürfnis überwältigt worden wären. Sie wechselten sich dabei ab, einander wach zu halten, bis ihre Mägen das Essen verdaut hatten und das Gefühl vorbei war. Dann kletterte Marlon aus der Spalte und verschwand erneut für eine Weile.
Csongor wurde von jemandem geweckt, der ihn an der Schulter schüttelte. Es war Marlon. Der Himmel über ihnen lag in tiefer Dämmerung.
»Das Schiff bewegt sich«, verkündete Marlon.
Csongor musste immer noch verarbeiten, dass er war, wo er war; dass nicht alles nur ein böser Traum gewesen war.
»Zurück nach Xiamen?«
»Nein. Auf uns zu!«
Da der Wasserstand zurückgegangen war, mussten die beiden Männer aus dem Boot aussteigen und es ein paar Meter weit aus der Rinne hinausschieben, um es wieder flottzumachen. Der Platz war zu eng, um die Riemen einzusetzen, sodass sie das Boot gegen den Wellenschlag schieben mussten, indem sie sich seitlich an den
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