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Error

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Titel: Error Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Stephenson
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lag ausgestreckt auf einem Felsblock wie ein Fallschirmspringer, dessen Schirm sich nicht geöffnet hat. Ein Strom von Blut lief seitlich an dem Felsen hinab. An einer Hand hing etwas Klobiges. Während Richard den Berg hinaufstapfte – ein Vorgang, der ewig zu dauern schien –, erkannte er es als Fernglas.
    Die viele Zeit auf dem Crosstrainer machte sich jetzt bezahlt. Jeder andere korpulente Mann seines Alters wäre schon längst tot umgefallen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal nicht gekeucht und geschwitzt hatte.
    Er war schon völlig überzeugt, dass Chet tot war, als der Arm sich bewegte, der Körper sich aufrichtete, das Fernglas vors Gesicht gehoben wurde. Richard war nahe dran aufzuschreien, wie wohl jeder, der einen Toten in Aktion treten sieht. Fast scheute er sich davor, noch näher zu kommen. Aber die quälende Langsamkeit des Fußmarschs auf Geröll gab ihm reichlich Zeit, diese primitiven Regungen beim Näherkommen in den Griff zu kriegen.
    »Hey, Chet«, sagte er, als er in Hörweite war. Chet hatte sich wieder hingelegt und rührte sich schon eine ganze Weile nicht mehr.
    »Dodge. Du bist gekommen.«
    »Das klingt, als würde dich das wundern.«
    »Ich weiß doch, wie beschäftigt du bist. Hast tonnenweise Kram um die Ohren.«
    »Für dich ist immer Zeit, Chet. Ich habe immer versucht, da keine Unklarheit aufkommen zu lassen.«
    »Stimmt. Ich weiß das zu schätzen. Hab ich immer.«
    »Sag nicht so was.«
    »Was soll’s, Dodge, du weißt, ich bin ein toter Mann.«
    »Aber das warst du schon mal – in dem Maisfeld. Weißt du noch?«
    »Nein. Da hatte ich einen Erinnerungsverlust. Weißt du noch?« Chet lachte, und Richard grinste ihn an.
    »Da habe ich das kapiert«, fuhr Chet fort, »mit den Breiten- und den Längengraden. Dass wir in einem gekrümmten Raum leben. Breitengrade verlaufen gerade. Längengrade krümmen sich aufeinander zu und sind an ihrem Anfang und an ihrem Ende alle eins. Als die Nautilus – das erste Atom-U-Boot – den Nordpol erreicht hat, hat sie über Funk eine Nachricht geschickt. Weißt du, wie diese Nachricht lautete?«
    »Nein«, log Richard, obwohl er schon hundert Mal gehört hatte, wie Chet die Geschichte verblüfften Mitgliedern der Nördlichen Paladine erzählte.
    »›Neunzig Grad nördlicher Breite‹«, sagte Chet. »Ihre Länge konnten sie nämlich nicht angeben, weil sich dort alle Längengrade in einem Punkt treffen. Sie waren auf sämtlichen Längengraden und deswegen auf keinem. Das nennt man Singularität.«
    Richard nickte.
    »Geburt und Tod«, sagte Chet. »Die Pole der menschlichen Existenz. Wir sind wie Längengrade, beginnen und enden alle am selben Ort. Am Anfang schwärmen wir aus, gehen unsere getrennten Wege über Meere, Berge, Inseln und Wüsten, und alle erzählen wir unsere eigenen Geschichten, die so verschieden sind, wie es nur geht. Aber am Ende bewegen wir uns alle aufeinander zu, und unser Ende ist ganz ähnlich wie unser Anfang.«
    Richard nickte immer nur. Er hatte Angst, dass seine Stimme versagen würde.
    »Ist dir eigentlich klar, wo wir hier sind?«, fragte ihn Chet.
    »Irgendwo verdammt nah an der Grenze«, bekam Richard schließlich heraus.
    »Nicht bloß nah. Schau doch!«, sagte Chet, streckte einen Arm in eine Richtung und schwang ihn dann über den Kopf wie die Klinge eines Papierschneiders, um genau in die entgegengesetzte Richtung zu zeigen. Als Richard in die angegebene Richtung schaute, bemerkte er eine sich durch die Landschaft ziehende Linie aus weit auseinanderstehenden Grenzsteinen.
    »Wir sind auf dem neunundvierzigsten Breitengrad«, sagte Chet. »Meine Füße sind in den USA , und mein Kopf ist in Kanada.« Sein Gesichtsausdruck verriet, dass das für ihn von enormer Bedeutung war, also nickte Richard nur und bemühte sich, keine Miene zu verziehen. »Ich versperre den Weg. Hier werden ihre Längengrade enden.«
    »Von wem redest du?«
    Chet machte eine unbestimmte Geste in Richtung Norden und hielt Richard das Fernglas hin. Richard nahm es, stellte es ein, setzte die Ellbogen auf die Grenze und schaute durch das Fernglas in Richtung Norden auf die Geröllhänge, die von der Kammlinie abfielen. Mit bloßem Auge war er imstande, zwei menschliche Gestalten auszumachen, die sich, etwa dreißig Meter voneinander entfernt, über die Felsbrocken einen Weg nach unten suchten. Mithilfe des Fernglases sah er sie deutlich als bewaffnete Männer mit dunklen Haaren, die im Großen und Ganzen dem Klischeebild

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