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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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beschloss, zu Hause zu bleiben und mir Gesellschaft zu leisten. Ich war also gezwungen, die Chemiebücher herauszuholen, während sie mit Tee und einer Scheibe Brot ankam.
    »Was ist ein ›Mol‹?«, wollte sie wissen.
    »Eine gewisse Anzahl an Atomen oder Molekülen. Genauer gesagt 6,023 mal 10 23 .«
    »Müsst ihr das auswendig wissen?«
    »Das ist nicht so schwer.«
    »Ärzte müssen auch ein gutes Gedächtnis haben. Howard auf meiner Arbeit, der weiß den Namen von jedem Knochen im Körper. Auf Latein.«
    »Kann ein Arzt Howard heißen?«
    »Er ist Waliser, bei ihm kann ich auf alles zeigen, was ich will. Du weißt, es gibt 206 Knochen im menschlichen Körper. Allein in deiner Hand sind es 27.«
    »Ist das der Mann, den du heute Abend zu dir einladen willst?«
    »Vielleicht hat er ja gar keine Zeit, ich habe mich noch nicht getraut, ihn zu fragen …«
    Wieder errötete sie.
    »Und du?«, warf sie den Ball zurück und wandte sich ab.
    »Ich muss lernen, Mama.«
    »Du könntest ja auch jemand zu dir nach Hause einladen. Wenn du willst, meine ich. Denn deine Mutter ist dir doch wohl nicht peinlich, oder …«
    Das würde ein langer Nachmittag werden. Ich schlürfte Tee und Saft, während sie versuchte, in meinem Privatleben herumzuwühlen. Bald würde sie sicher wieder eine Vorlesung über Präventionsmittel halten. Als Krankenschwester hatte sie viele eklig tropfende Unterleiber gesehen, und bereits in der Mittelstufe hatte sie mir ein Zehnerpack gegeben. Eines der Gummis hatte ich heimlich auf der Toilette ausprobiert, mit das Peinlichste, was ich je erlebt hatte.
    Zuerst kriegte ich es nicht drüber, dann klopfte Mama an die Tür und wollte unbedingt etwas von mir in meinem Lümmeltütengeruch, und ich versteckte schnell das Päckchen in der Unterhose und sprühte mit Haarspray um mich herum. In meiner Schreibtischschublade lagen jetzt noch neun, mit abgelaufenem Haltbarkeitsstempel.
    »Ich bin Krankenpflegerin, du brauchst also keine Scheu zu haben, das ist dir doch wohl klar. Ich habe schon alles gesehen, was es am Körper gibt, als ich auf der Notaufnahme gearbeitet habe, von vorn und von hinten, und auch einiges, was drinnen steckt. Und ich habe gelernt, wie wichtig es ist, sich zu schützen, besonders die Jugendlichen. Wer denkt schon, dass dieses niedliche Mädchen einen anstecken kann, es sind nicht nur die Junkies oder Prostituierten, die …«
    Plötzlich klingelte das Telefon. Mama ging auf den Flur und nahm ab.
    »Hallo? Ja, das ist er … Nein, ich denke nicht, er hat sich den Fuß verstaucht.«
    Sie kam mit dem schnurlosen Apparat herein.
    »Da ist einer, der nach dir fragt. Pålle heißt er.«
     

KNAPITTEL 5
     
    Der Wald war dicht wie ein Dschungel, voll mit Gestrüpp zu beiden Seiten des Wegs, man konnte nur ein paar Meter hineingucken. Es roch nach Ameisenhaufen und vermodertem Herbstgras, verrotteten Pilzen, scharfem Gegorenem. Pålle fuhr mit dem Rad vor mir her, ohne sich umzuschauen. Ich versuchte mir die kleinen Wege und Pfade, die wir entlang fuhren einzuprägen, wollte allein nach Hause finden können, falls das nötig sein sollte.
    Pålle hatte etwas an sich, was mir vorher noch nie aufgefallen war. Der Nerd war verschwunden, stattdessen zeigte sich eine schweigsame Selbstsicherheit. Er schien im Wald zu Hause zu sein. Er trug eine abgetragene Militärhose im Camouflagemuster und einen breiten Gürtel, an dem ein Hornmesser baumelte.
    »Wohin wollen wir?«, rief ich.
    Er zeigte nur nach vorn. Kein Gequatsche über langweilige Homepages mit Vinylplatten mehr, keinerlei Nervosität.
    »Wie geht's dem Fuß?«, wollte er wissen.
    »Kein Problem.«
    Mama hatte einen Stützverband drum gewickelt, bevor sie mich laufen ließ, ich hatte mich nicht getraut zu protestieren. Außerdem wollte sie mir noch ihr Handy leihen, weil mein eigenes kaputt war, aber das hatte ich abgelehnt. Jetzt war ich hier draußen in der Wildnis allein mit einem mit einem Messer bewaffneten Fremden.
    Der Weg verzweigte sich wieder einmal, und ich versuchte ihn mir zu merken. Von der großen Straße war es rechts abgegangen, dann links, noch mal links, immer geradeaus und dann rechts … oder waren wir vorher nicht noch einmal rechts abgebogen? Verdammt. Schweiß lief mir den Rücken hinunter, ich versuchte mir einzuprägen, wie die Natur hier aussah. Das Gebüsch war in halbhohen Nadelwald übergegangen, ungepflegt und dicht wie eine Wand. Ging man dort hinein, konnte man verschwinden. Wäre für ewig

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