Erschiess die Apfelsine
auszuhalten. Man ist nackt vor lauter Furcht. Unter der innersten Maske gibt es nur Ehrlichkeit und Wahrheit. Und dort findet man die Poesie.
Ich war so nervös, dass sich mein Magen zu einem Muskelknoten zusammenzog. Essig stieg mir im Hals hoch, im Mund schmeckte es wie Autobatterie, ich musste mich am Schwarzen Brett abstützen, um nicht zu schwanken. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich Menschen kommen und gehen. Niemand schien mich zu bemerken. Sie verschwanden alle in einem Saal. Und aus der anderen Richtung kam niemand. Jetzt, jetzt, tu es jetzt! Meine verschwitzten Finger zogen das Papier aus dem Rucksack. Nicht so ein handgeschriebener Zettel wie die der Kunstschüler, sondern ein ordentlicher Ausdruck aus dem Drucker. Schnell pinnte ich ihn an einer freien Stelle fest. Niemand hatte mich gesehen.
Die Feder ist meine Pistole
Ich schieße dir in die Augen …
Ich war nicht in der Lage, weiterzulesen, mein Herz fing an, wie wahnsinnig zu klopfen. Mit schweißigen Handflächen trollte ich mich, voller Todesangst, dass mich jemand entdecken könnte.
KOPITTEL 8
Nach der Schule war Pålle nicht mit im Bus. Vielleicht hatte er ja einen früher genommen. Dennoch war ich unruhig. Zu Hause in der Wohnung holte ich das Jahresheft der Schule heraus. Adresse und Telefonnummer standen drin, trotzdem zögerte ich. Bei ihm anrufen, das zeigte, dass ich mich um ihn kümmerte. Fast als wäre ich sein Freund. Schließlich ergriff ich doch den Hörer und wählte. Nach acht Freizeichen legte ich mit einem unguten Gefühl in der Magengrube auf.
Ich ging ins Badezimmer, mein Blick bohrte sich in den Spiegel. Der Rotz klebte noch an derselben Stelle. Vorsichtig zog ich ihn ab und ließ ihn ins Waschbecken fallen.
Nach ein paar Scheiben Brot und einem Becher Kakao schrieb ich einen Zettel für Mama, die in dieser Woche Nachmittagsschicht hatte: »Bin noch mal weggegangen. Komme bald wieder.« Dann ging ich hinunter. Pålle wohnte nicht weit entfernt, ich ging zu Fuß an Mietskasernen mit Inlineskatern und Herumlungernden vorbei, an Männern, die mit ihren Hunden Gassi gingen, und Frauen mit Einkaufstüten, vorbei an der hässlichen Klinkersteinkirche, die eher aussah wie eine Garage für Trecker, und an dem gelben Holzhaus, in dem der Kindergarten war, den ich selbst besucht hatte, als ich noch klein gewesen war, und dann weiter hoch zu den Doppelhäusern, die in schnurgeraden Reihen gebaut worden waren, was mich immer an Lego erinnerte. Es dauerte eine Weile, bis ich die richtige Adresse gefunden hatte. Alle Straßen hatten Blumennamen. Nach Veilchen, Heidekraut und Gänseblümchen kam ich endlich am Glockenblumenstieg an, einem Haus mit Garage, die an einer anderen Garage mit Haus klebte, nur spiegelverkehrt. Auf dem Hof stand ein riesiger Hund und sabberte, und als ich mich ihm näherte, fing er an, mit rauer Bassstimme zu bellen und an der Kette zu zerren. Ich sah, wie sich die Küchengardine bewegte, dann wurde die Tür geöffnet.
»Wir kaufen nichts an der Tür«, erklärte eine dicke Frau.
Dick war untertrieben, sie war ein Fleischberg, ein wabbelnder Kebnekajse, der höchste Berg Schwedens, bedeckt mit einem grünen Armeezelt, das eine Art Kleidung vorstellen sollte.
»Ich suche Pålle«, rief ich.
»Hier wohnt keiner mit diesem Namen.«
»Aber im Jahresheft der Schule, da …«
»Unser Sohn heißt Pål.«
»Ja, Pål meine ich. Genau, Pål.«
Die Frau zog keuchend an der Kette, bis der Hund bei ihr ankam und ich mich in den Flur pressen konnte. Drinnen roch es irgendwie nach Metall. Nach geputztem Messing und Hundefell. Ich drückte mich an die Wand, als die Riesin an mir vorbei in die Küche watschelte.
»Also Pål?«, wiederholte ich.
Sie sagte nichts, winkte mich nur mit einer schlaffen Hand heran. Ich zog meine Schuhe aus und trottete in die Küche. Sie zeigte auf den Küchentisch, ein massives dunkelbraunes Teil, und ich setzte mich. Keuchend vor Anstrengung ging sie zum Herd, rührte und grub in einem Topf und stellte einen Riesenteller mit Essen vor mich hin. Es sah aus wie irgendwelche Frikadellen.
»Aber ich habe gerade gegessen …«
»Papperlapapp!«
Ihr scharfer Ton brachte mich dazu, mich vorzubeugen und loszuschaufeln. Sie beobachtete jede meiner Bewegungen.
»Wie schmeckt es?«, fragte sie dann.
»Gut.«
»Sag das Pål.«
»Das werde ich. Wann kommt er zurück?«
Die Frau nahm einen Inhalator, sprühte sich damit in den Mund und ließ ein paar gurgelnde Atemzüge
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