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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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in die Luft.
    »Zurück!«, schrie Pålle.
    Ich warf mich zur Seite. Der Köter sprang mit einem Satz ins Haus, Pålle warf sich wie ein Fußballtorhüter vor und bekam das Halsband zu fassen. Die Bestie kam zehn Zentimeter vor mir zum Stehen, mit tropfendem Maul.
    »Ich hab ihn!«, keuchte Pålle über dem Hundeschädel.
    »Besuch uns gern mal wieder!«, war die Mutter aus der Küche zu hören.
    Hastig machte ich mich auf den Weg.
     
    Auch am nächsten Tag war Pålle nicht auf den Schulfluren zu entdecken. Vielleicht schwänzte er ja, vielleicht versteckte er sich während der Pausen in irgendeinem Klassenraum. Ich selbst ließ es ruhig angehen, wurde aber viermal als Schwuler bezeichnet, obwohl ich sauber und brav war. Mein Ruf hatte sich in der Schule verbreitet.
    Nach Chemie war große Pause. Den ganzen Vormittag hatte ich an das Gedicht denken müssen, meine nackten, aufgespießten Worte, und jetzt konnte ich mich nicht länger zurückhalten. Mit grummelndem Magen und verschwitzten Handflächen marschierte ich zum Kunsttrakt, auf das weiße Papier zu, das dort hing.
    Ich wollte meinen Lesern begegnen. Vielleicht stand ja eine Gruppe dort, eine gierige Menschenansammlung, in der geschubst und gedrängelt wurde, um etwas von meinen Zeilen zu erhaschen:
    »Die Feder ist meine Pistole!«, sollten sie rufen. »Das ist genial, was für ein Gedicht, wer kann nur dieses unglaubliche Talent haben?«
    Aber vor dem Schwarzen Brett war es vollkommen leer. Obwohl noch Pause war. Hier und da saßen ein paar Schüler, hörten über ihre Kopfhörer Musik oder tippten auf ihren Handys herum. Ich trottete am Schwarzen Brett vorbei. Warf dabei einen Seitenblick dorthin und blieb mit einem schnellen Ausruf des Erstaunens stehen, so dass sie es bemerken mussten. Mit verblüffter Miene beugte ich mich vor, um besser sehen zu können, als wollte ich mir auf keinen Fall auch nur ein Wort entgehen lassen. Still davor stehend las ich mein Gedicht wortlos viermal durch, wobei sich mein Rücken immer mehr aufrichtete, bis ich in einer Art verzückter Habacht-Stellung landete. Ich versuchte fasziniert auszusehen, geradezu paralysiert, die Schulterblätter waren gespannt wie Flügel, der Mund stand offen, und ich stieß ein schwer erstauntes Tsssss aus, das die Aufmerksamkeit der Nächststehenden ja wohl wecken würde. Dann beugte ich mich erneut vor, um mir das Gedicht wirklich einzuprägen, damit ich dieses beeindruckende Erlebnis, das meinen grauen Schulalltag erhellt und mir Mut und Kraft zum Weiterleben gegeben hatte, nicht wieder vergaß. Um zu unterstreichen, wie gut es war, streckte ich den Zeigefinger vor und klopfte mehrere Male aufs Papier. Es war ein Klopfen, als wäre das Schwarze Brett eine Tür, als wollte ich geradewegs ins Gedicht eintreten. Doch stattdessen drehte ich mich um und schritt unter dem Eindruck dieses überwältigenden Leseerlebnisses mit erhabenen, federnden Schritten davon.
    An den Drehtüren ganz hinten ging ich in Deckung. Diskret lugte ich zurück zum Schwarzen Brett. Ich wusste, die Schüler mussten meine Vorstellung mitbekommen haben, zumindest die in der Nähe, jetzt hieß es nur noch, den Effekt abzuwarten. Da kamen ein paar Mädchen heran. Nein, sie gingen nur dran vorbei. Ein Lehrer mit einem Saxophon in Händen hastete davon. Eine ganze Gruppe blieb jedoch stehen, ja, jetzt würden sie es lesen, ein Typ beugte sich sogar vor. Doch dann bekam er einen Anruf, holte sein Handy heraus und trottete hinter den anderen her.
    Da tauchten einige Kunstmädchen auf. Schon aus der Ferne erkannte ich die eine wieder. Das Mädchen mit den grünen Augen. Jetzt waren sie am Schwarzen Brett angekommen. Und blieben tatsächlich stehen. Die mit den grünen Augen beugte sich vor. Dann las sie. Sie las mein Gedicht, ich konnte es deutlich sehen. Und dann zeigte sie darauf und sagte etwas, ich konnte aber nicht hören, was. Was hielt sie davon? Ich musste wissen, was sie davon hielt!
    Anschließend liefen sie weiter in meine Richtung. Die mit den Smaragdaugen redete fröhlich, schien ganz aufgekratzt zu sein. Ich wusste, das war die Kraft des Gedichts, es hatte seine Nadeln in sie gebohrt und sich ihr einverleibt, Brandbeschleuniger lief ihr jetzt durch die Adern, Feuer, Revolution. Sie hatte mein gutes Gift geschluckt. Es war sonnenklar, wir gehörten zusammen. Und gleichzeitig – es war gemein – gleichzeitig fühlte ich, wie ich langsam fiel. Ein brennender Wolkenkratzer, dessen Stahlträger vom Feuer schmolzen und

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