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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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lange trainiert hatte, ein weiterer Schuss, dass sich das Knie löste, das ganze Unterbein. Der Schuh mit den Fußresten flog wirbelnd davon, und Ludvig war vollkommen verblüfft. Er war einfach nur verblüfft. Er war noch nie in seinem Leben so überrascht gewesen, verlor das Gleichgewicht auf seinem einen Bein und plumpste auf den Hintern, während das Blut aus dem Stumpf spritzte, wie aus einem Wasserhahn ohne Absperrhahn.
    Das war eine schöne Vorstellung. Ich hob mir die Szene im Rachezentrum meines Gehirns auf. Das machte es etwas einfacher, mir selbst einzugestehen, dass ich Prügel eingesteckt hatte. Stift und Papier, schnell. Ich spürte, wie die Worte kamen:
     
    Bombardier den Dreck
    Bombardier den ganzen Dreck
    Wirf Granaten in die Flure
    Bomben auf die Gehirne
    wirf Feuer in die Klassenräume, in die Klassenzellen
    das Eckige wird rund
    das Runde wird ein Herz
    das Herz gefüllt mit Benzin und geworfen
    dass die Seelen brennen
    damit wir sterben und anfangen zu leben
    damit das Dach sich hebt und wir ihn sehen können
    den roten Himmel
     
    Oh Scheiße! Oi oi oi. Ich ließ den Stift fallen. Oder besser gesagt, er fiel mir aus der Hand. Die Hand zitterte, als wollte sie abfallen, die Adern waren voll mit Nitroglycerin.
    Ich las das Gedicht, und schwindlig stellte ich fest: Das war das Beste, was je geschrieben worden war. Also, jemals überhaupt, es war genial. Es war vollkommen. Das Gedicht schrieb sich als Nummer eins in die Literaturgeschichte hinein, niemand hatte zuvor diese Höhen erklommen. In unglaublich kurzer Zeit hatte ich mich zum besten schwedischen Poeten aller Zeiten entwickelt.
    Ich war genial.
    Eine Weile blieb ich sitzen und ließ es wirken. Sicherheitshalber las ich das Gedicht noch einmal, und es war immer noch genauso perfekt. Nicht zu übertreffen. So war es also: Ich war ein Genie. Das musste mit meinem neuen Leben zu tun haben. Mit dem Kittel. Ich hatte mein altes Leben weggeputzt, wie man einen Kellerverschlag räumt. Weg mit allem Gerümpel, Schrott und Mist. Und mitten in all dem wertlosen Zeug hatte also ein Block aus poliertem Erz gestanden. Ein Steinblock. Ein Monolith, so erhaben und fest, er erschien göttlich zwischen den alten Kleidern, den Winterschuhen und den Plastikschlitten. Jetzt wartete er dort unerschütterlich. Jetzt war er mein Schicksal. Der Beweis meiner unzweifelhaften Größe.
    »Was schreibst du da?«, fragte meine Mutter, ihre Wangen waren vom Telefongespräch immer noch gerötet.
    »Ach, das sind nur Hausaufgaben.«
    »Kannst du dir heute selber was zu essen machen? Das wäre lieb. Ich hab einen Termin, etwas wegen der Arbeit, muss gleich los.«
    Sie konnte genauso schlecht lügen wie ich.
    »Na klar«, sagte ich und legte eine Hand auf das Gedicht. »Kein Problem.«
    Ich zitterte immer noch. Las das Gedicht noch einmal durch. Es war immer noch genau so gut. Mein Gehirn schwoll im Schädel an, bis ich wie ein Ballon davonfliegen konnte. Die Füße berührten kaum noch den Boden. Ich wünschte, die Menschheit könnte mich sehen, mich entdecken. Ich musste das Gedicht ins Netz stellen, wo alle es sehen konnten. Dort würde es wie ein Schmuckstück funkeln, wie ein erleuchteter Wolkenkratzer dort stehen zwischen eifrigen bewundernden Kommentaren, die sich über die Chatseiten ergossen.
    Nein, nicht im Netz. Ich wollte die Reaktionen sehen, die Gesichtsausdrücke, mitbekommen, wie die Münder sich öffneten und die Kinnladen herunterfielen, beobachten, wie die Pupillen zu schwarzen Pingpongbällen anschwollen, um so viel wie möglich aufsaugen zu können.
    Ich wollte noch einmal sehen, wie sie stehen blieb, in ihren schwarzen Klamotten, wie sie sich vorbeugte und plötzlich ein Stromstoß durch ihren Körper fuhr. Ich selbst würde diskret in der Flurecke warten, wollte ja nicht stören, aber mein Gehirn würde sich jedes kleinste Detail einprägen. Wie sie mir entgegen kam, immer noch ganz benommen von dem Erlebnis, meinen Worten, dem Gewicht dieser Worte, und wie sie mir dann begegnete. Kein Ääh dieses Mal, vielleicht »Können wir reden?«. Sie bleibt zögernd stehen, hat immer noch weiche Knie, ist in ihren Grundfesten erschüttert, und sie berührt meinen Oberarm. Peng, ein Funke blitzt zwischen uns auf, dass wir außer Gefecht gesetzt werden, es entsteht eine Rauchwolke, zwei Rauchbüschel, die aufeinanderstoßen, während der Donner durch den Flur rollt und die Fensterscheiben vibrieren, Schüler werden wie Anziehpuppen gegen die Wände geschleudert,

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