Erschiess die Apfelsine
Apfelsine.«
»Ich werde niemals treffen.«
»Dann geh näher ran.«
Ich maß zehn Meter ab. Spannte den Körper. Machte mich bereit.
»Vergiss nicht zu entsichern«, sagte Pålle. »Und spann den Hahn.«
Er holte sein Handy heraus und filmte mich. Aber wie sehr ich mich auch anstrengte, die Apfelsine tanzte hin und her. Durch das Gewicht schliefen mir die Arme ein. Schließlich musste ich die Waffe senken und erst mal Kraft schöpfen.
»Ruhig atmen«, ermahnte Pålle. »Finde das Gefühl, die Ruhe.«
Die Apfelsine da vorn veränderte sich. Langsam bekam sie ein Gesicht. Wurde zu einem verschwitzten, bedrohlichen Feind. Ludvig. Mit einem leisen Seufzer drückte ich ab.
Der Knall dröhnte durch die Ohrpfropfen. Die Waffe zuckte wie ein lebendiges Geschöpf, und es brannte bis in die Augenbrauen.
Als ich die Augen öffnete, lag die Apfelsine immer noch dort.
»Du hast zu niedrig gezielt. Das war der Stein.«
Pålle war schon dort und zeigte es mir. Eine weiße, tiefe Schleifspur im Fels.
Im nächsten Moment fiel der Vorhang. Ein Auge erlosch. Ich blinzelte und sank auf die Knie. Blut tropfte auf den Boden.
»Verdammte Scheiße, du bist verletzt!«
Ich fühlte mich schwindlig und musste ausspucken, kleine weiße Spuckebläschen. Mehr Blut quoll hervor, rot, nach Eisen riechend.
»Leg dich hin«, keuchte Pålle.
»Ich sterbe«, nuschelte ich.
»Was ist passiert?«
Mein Kopf dröhnte wie eine alte Schreibmaschine. Ein schönes Gefühl, sich hinzulegen. Pålle wischte mir die Stirn mit einem Stück Papier ab und schaute nach.
»Da ist ein Riss«, sagte er. »Kein Einschuss, zum Glück, zuerst hab ich geglaubt, du wärst vom Rikoschett getroffen worden.«
»Riko … rischok …«
»Blöd, den Stein zu treffen. Das muss ein Steinsplitter gewesen sein. Nur zwei Zentimeter vom Auge, du hättest blind werden können.«
Ich blieb auf der Erde liegen und erholte mich. Pulte geronnenes Blut aus dem Auge und wartete, bis ich wieder gucken konnte, wenn auch noch trüb. Pålle schälte die Apfelsine und bot mir süße, saftige Stücke an.
»Ich habe vorbei geschossen«, sagte ich.
»Das muss man üben.«
»Wer hat dir das Schießen beigebracht?«
»Es geht darum, sich vorzubereiten. Falls wir gezwungen sind, den Bunker zu verteidigen.«
»Okay.«
»Du weißt, was ich meine.«
Pålle sah vollkommen ruhig aus. Hier im Wald war er ein anderer geworden.
»Was würdest du machen, wenn jemand versucht, dich zu töten?«, fuhr er plötzlich fort.
Ich musterte ihn. Er schien auf eine sonderbare Art und Weise konzentriert zu sein. Seine Lippen glänzten feucht.
»Meinst du die Arschgeigen?«
»Wenn man wirklich davon überzeugt ist, dass es passieren kann. Dass einen jemand töten will. Also dich umbringen will.«
»Die wollen uns doch nur Angst einjagen, Pålle. Sie wollen dich verprügeln, aber wir werden sie schon bremsen.«
»Wie hält man einen Wahnsinnigen auf?«
»Man kann weglaufen. Es ist nicht feige, wegzulaufen, das Wichtigste ist, dass man davonkommt.«
»Und wenn man eingeschlossen ist?«
»Meinst du in einem Haus? Dann muss man sich verteidigen. Mit allem, was man hat.«
»Und schlagen und treten darf man auch?«
»Ja, natürlich. Mit Lampen, Stühlen, Blumentöpfen um sich schmeißen, mit allem, was sich in der Nähe findet. Beißen, versuchen, die Augen auszukratzen.«
»Aber wenn der andere nun viel stärker ist? Und du bist eingesperrt?«
»Dann musst du dich so teuer wie möglich verkaufen.«
»Mhm«, nickte Pålle nachdenklich.
»Ich helfe dir, Pålle. Es wird schwieriger für sie, wenn wir zu zweit sind.«
»Diese Ungewissheit, die ist das Schlimmste. Dass man es nie weiß. Zu spüren, wie es immer näher kommt, obwohl alles ganz ruhig ist. Strahlend blauer Himmel, der Hund schläft, langsam fängt man an zu glauben, man bilde sich alles nur ein. Man versucht die Gedanken wegzuschieben, aber sie sind einfach da. Verstehst du das?«
»Ja«, log ich.
»Du verstehst das?«
»Ich verstehe das.«
Er musterte mich mit einem merkwürdigen Blick. Keine Angst, keine Wut. Aber die Stimme klang plötzlich etwas gepresst.
»Komm, lass uns gehen und die Konserven sortieren.«
Abend. Habe beschlossen, August Strindberg eine Chance zu geben. Nach Meinung vieler der beste Schriftsteller Schwedens. Das Buch, das ich nur widerstrebend aus der Schulbibliothek ausgeliehen hatte, roch nach Rost. Nach dem Handschweiß von Hunderten von Schwedischschülern. Nach drei Seiten war ich kurz
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