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Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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Dunkelheit einhüllte, wand ich mich innerlich. »Hör auf«, flüsterte ich so leise, dass ich es selbst kaum hören konnte. Ich versuchte, mich zu räuspern. »Hör auf.« Incy ignorierte mich. Er sang einfach weiter. Er hatte Übung darin und es schon lange geplant. Vermutlich bereits, als ich verschwunden war. Vielleicht auch schon früher.
    Katy sah emotionslos zu, denn auch ihr Geist war komplett vernebelt. Begriff sie, was hier geschah? Mir wurde auf einmal klar, dass ich zwar viel mit Katy zusammen gewesen und mit ihr gereist war, zeitweise sogar mit ihr zusammengelebt hatte, sie aber im Grunde gar nicht kannte. Ich hatte keine Ahnung, was sie dachte oder was sie jetzt tun würde, wenn sie es könnte.
    Incys gleichförmiger Gesang wurde stärker, gröber, und die Worte flogen jetzt wie Geschosse, wie unbarmherzige Peitschen. Plötzlich wachte Boz auf und begann zu kämpfen.
    Seine Schultern zuckten nach vorn; ich hörte, wie seine Kette rasselte und sich ins Holz des Pfeilers grub. Seine Augen sprangen weit auf und er starrte Incy ungläubig an.
    »Hör auf!«, sagte ich und spuckte die Worte aus wie einen Tonklumpen. Wieder versuchte ich, mich zu bewegen, aber es war hoffnungslos.
    Boz fing an zu schreien. Es war ein fast tierischer Schrei des Schmerzes und der Angst. »Okay! Okay! Ja! Nimm sie!«, schluchzte er. »Nimm sie! Aber hör auf damit!«
    Incy lächelte grausam und sang weiter.
    Jetzt fing Boz an, in Todesangst zu kreischen. Seine Augen quollen aus ihren Höhlen und die Pupillen breiteten sich über seine blauen Augen aus wie schwarze Ölflecke. Blankes Entsetzen erfüllte mich, als ich zusah, wie das absolute Böse Boz von sich selbst trennte. Ich musste wieder daran denken, wie meine Mutter während der Belagerung Reyns Bruder lebendig gehäutet hatte. Ihre Worte waren genauso dunkel und schrecklich gewesen wie die von Incy und ich hatte ihr Gesicht kaum wiedererkannt. Sie hatte die Hand gehoben, sie vor dem Berserker aufschnappen lassen und ihr Amulett hatte mit einer beängstigenden Kraft aufgeleuchtet. Die Haut des Kriegers war von ihm abgeplatzt, hatte sich in Fetzen durch seine Kleidung, seinen Lederpanzer und sein Kettenhemd von ihm getrennt. Ich hatte fassungslos zugesehen, wie er dastand wie ein Anatomiemodell, rohe Muskeln, Sehnen und Knochen, die Augen riesig und überrascht ohne ihre Lider, ohne Augenbrauen. Es hatte ihn natürlich nicht getötet. Sigmundur war vorgesprungen und hatte dem Berserker den nackten Kopf abgeschlagen. Das war dann sein Ende gewesen. Die Kraft meiner Mutter war genauso dunkel gewesen wiediese hier, genauso böse, aber sie hatte sie eingesetzt, um uns, ihre Kinder, zu retten.
    »Hör auf! «, flehte ich wieder. Es klang wie ein Aufschluchzen und selbst das war so anstrengend, dass ich mich am liebsten in den Staub fallen lassen hätte, um die nächsten hundert Jahre ohnmächtig zu verbringen.
    Incy sang immer noch, aber jetzt hörte es sich triumphierend an. Sein Gesicht strahlte und die Augen funkelten. Die Luft schmeckte verseucht und so widerlich, als würde ich Krankheiten einatmen und Hass und Verzweiflung.
    Incys Stimme steigerte sich zum Höhepunkt. Seine Hände pressten sich so hart um Boz' Gesicht, dass die Haut um seine Fingerspitzen weiß aufleuchtete. Mir flossen Tränen aus den Augen und über die Wangen.
    Boz' Rücken krümmte sich. Seine Stimme war heiser und klang halb erstickt. Katy drehte langsam den Kopf in seine Richtung und sah ihn verständnislos an. Incy schrie seine letzten Worte heraus, dann sprang er mit erhobenen Armen auf und stand über Boz wie ein Matador, der gerade vor den Augen der Menge einen Stier getötet hatte.
    Zu seinen Füßen verstummte Boz abrupt. Nur drei Meter von mir fiel sein Gesicht in sich zusammen, als hätte man die Luft abgelassen. Ich keuchte und mein Magen krampfte sich bei diesem Anblick zusammen. Boz' Schultern sackten herab und sein Kopf sank auf eine groteske, unnatürliche Weise auf seine Brust. Seine Haut war grau und puderig, so runzlig und welk, dass sie kaum wiederzuerkennen war. Sein Körper kippte schlaff nach vorn und wurde nur noch von der Kette aufrecht gehalten, die seine verdorrten Hände zusammenhielt. Es war, als hätte Incy Boz die Seele ausgesaugt und nur eine ausgedörrte nichtmenschliche Hülle zurückgelassen,eine abstoßende leere Haut, die einmal mein Freund gewesen war. Alles, was Boz ausmachte, was er gewesen war,

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