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Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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was er in seinem Leben getan hatte - war ausgelöscht, für immer. Ich hatte noch nie einen Unsterblichen sterben sehen, ohne dass ihm der Kopf abgeschlagen wurde. Es war schockierend und traf mich aus irgendeinem Grund viel härter als die wenigen Male, in denen ich miterlebt hatte, wie normale Menschen starben. Ich hatte nicht gewusst, dass so etwas möglich war. Incy hatte es gewusst.
    Die Luft knisterte förmlich vor Magie und Dunkelheit. Sie war beißend, kratzig, schmerzhaft und widerwärtig und überall um mich herum. Ich versuchte, die verseuchte Luft nicht einzuatmen, weil sie mich zum Würgen reizte. Incy lachte und tanzte herum, so trunken von Boz' Leben und seiner Energie, dass er nicht stillstehen konnte.
    »Ich bin unbesiegbar!«, schrie er und wirbelte um mich und Katy herum. »Ich bin unbesiegbar!«
    Ich versuchte, mich nicht vor Angst und Ekel zu übergeben. Ich warf Katy einen Blick zu und hinter ihrer betäubten Stille erkannte ich Entsetzen und Verstehen. Sie wusste, dass der schöne, selbstsüchtige, alberne Boz tot war, wusste, dass gerade etwas Unaussprechliches passiert war. Und ihr würde es ebenso ergehen und mir auch. Eine von uns würde noch einmal dabei zusehen müssen.
    Da fing sie an zu weinen. Ihre Schultern, die so schmerzhaft nach hinten gezerrt wurden, bebten. Sie drohte an ihren Tränen zu ersticken und würgte ebenso wie ich und einen Moment lang sah es so aus, als würde sie das Bewusstsein verlieren. Aber dann hob sie doch wieder den Kopf und die Tränen hatten ein Streifenmuster in ihr schmutziges Gesicht gemalt. Ihr Mund öffnete und schloss sich, aber sie brachte kein Wort heraus. Ich hatte sie schon betrunken erlebt, krank, hysterisch lachend und weinend vor Rührung, als rund um uns die Menschen auf der Straße nach dem Zweiten Weltkrieg den Sieg gefeiert hatten. Aber so wie jetzt hatte ich sie noch nie erlebt: aufgelöst, schmutzig, betäubt, weit jenseits von Angst und Entsetzen. Ich wünschte, ich hätte sie trösten können.
    Incy tanzte immer noch um uns herum, voller Kraft, angefeuert von der bösen Terävä-Magie. Er lachte wie ein Wahnsinniger und rieb sich die Hände.
    Schließlich fuhr er herum und blieb vor mir stehen. Er strahlte eine schreckliche und unnatürliche Schönheit aus. »So, Nastasja, du bist die Nächste. Gib mir deine Kraft wie der alte Boz hier und Katy braucht keinen Abgang zu machen. Einverstanden?«
    Ich starrte ihn an. Meinte er das ernst? Konnte ich sie retten? Aber ... was würde er mit meiner Kraft anfangen?
    Nichts Gutes. Was für eine Wahl. Was würde River von mir erwarten?

24
    Die Silvesternacht schien ein paar Hundert Jahre zurückzuliegen. Ich hatte mit allen zusammen in River's Edge um ein Feuer herumgetanzt und die Magie in mir aufsteigen lassen wie bei einem Springbrunnen oder einem Sonnenaufgang. Ich hatte versucht, die Dunkelheit aus mir zu verbannen. Danach hatte Reyn auf mich gewartet. Im verschneiten Wald hatte er mich geküsst und ich hatte mich meinem Verlangen nach ihm hingegeben. Er war so warm und stark gewesen. Er hatte mir gesagt, was er wollte - mich -, und mich gefragt, ob ich auch ihn wollte. Ich war so eine Idiotin gewesen, eine verängstigte Idiotin. Ich hatte dort so viel gelernt, aber für mich waren es Häppchen ohne Zusammenhang gewesen: Kristalle hier, Kräuter da, Sterne, Namen verschiedener Dinge, Beschwörungen, Öle und Mondphasen. Ich war so dämlich gewesen, dass nichts zusammengepasst hatte, dass sich die Einzelteile nie zu einem Buntglasfenster der Erkenntnis zusammengefügt hatten. Wenn ich noch einen weiteren Versuch hätte ...
    »Was sagst du, meine Liebe?« Incys Gesicht strahlte so perfekt und bis in alle Ewigkeit wie dieses Gemälde, das ich im Museum gesehen hatte, denn die Kraft und das Leben, die er gestohlen hatte, feuerten ihn an.
    Seine Worte rissen mich zurück in die Gegenwart, in der meine verkrampften Muskeln schmerzten, mein Gehirn hektische Bilder produzierte und mich dieser nervige Fesselungszauber festhielt wie ein Opferlamm. Ich starrte zu Incy hoch und konzentrierte mich auf sein Gesicht. Ein Wort tauchte in meinem Kopf auf, zuerst nur undeutlich, dann klarer: Fjordaz. Fjördisch. Es war ein sehr altes Wort für das, was Incy stahl - irgendwie war mir das plötzlich bewusst. Er hatte den Fjordaz von Boz genommen.
    Wo hatte ich das gehört? Von meiner Mutter? Ja. Es war ein Wort, das in dem Gesang vorkam, mit dem sie ihre Macht zu sich rief.

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