Ersehnt
entfernt. »Ich hasse dich dafür, was ich ihnen wegen dir antun muss!« Er holte wieder mit der Kette aus und traf diesmal den Pfeiler von Boz, wo sie einen Holzsplitter herausriss.
Incy rastete total aus, kreischte und spuckte und trat wild um sich. Er schnappte sich ein Stück Metall und schleuderte es durchs Lagerhaus. Es traf eins der maroden Fenster und ließ es explodieren.
Wir hatten keinen Grund zu glauben, dass er uns am Leben lassen würde. Dessen war ich mir sicher und die Angst trieb mir nutzlose, brennende Tränen in die Augen. Er würde uns töten und unsere Kraft rauben. Niemand würde uns vermissen. Wir waren zu geübt darin, plötzlich zu verschwinden.
Die Leute würden glauben, wir hätten uns neue Namen zugelegt und wären in andere Städte gezogen. Ganz abgesehen davon, dass sich niemand Gedanken darüber machen würde. Wir drei hatten massenweise enttäuschte Freunde und ver;letzte und verbitterte Bekannte zurückgelassen. Wir waren Loser und es würde niemanden kratzen, wenn wir verschwanden. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, den vielen Gelegenheiten, bei denen ich dem Tod von der Schippe gesprungen war, würde ich heute Nacht tatsächlich sterben. Vor vierhundertfünfzig Jahren hatte ich überlebt. Das würde ich heute Nacht nicht mehr. Ich zitterte schon jetzt vor Kälte und nun pumpte meine Angst auch noch eine neue Ladung Adrenalin in mein Herz. Ich fühlte mich ruhelos, aufgeputscht und doch bewegungsunfähig, als hätte ich hundert Tassen Espresso getrunken und mich danach in ein Mumienkostüm einnähen lassen.
Während Incy vor sich hin wütete und immer verrückter wurde, stellte ich mir Rivers Gesicht vor, wie sie mich freundlich und verständnisvoll ansah. Ich sah Reyn vor mir, dachte daran, wie ärgerlich er mich machte, wie sehr ich ihn wollte, was ich alles nicht über ihn wusste, wie viel ich noch über ihn erfahren wollte. Reyn war da gewesen, an diesem ersten Tag, als mein altes Leben starb. Er war ein Teil meiner Gegenwart gewesen, als ich versuchte, ein neues Ich zu werden.
Ich würde ihn nie wieder sehen. Die Vorstellung war schockierend. Incy war plötzlich still und stand angespannt und wütend vor Boz. Der hob benommen den Kopf und blinzelte mit ausdruckslosen Augen zu ihm auf. Sein Äußeres war so umwerfend. Ich kannte ihn seit neunzig Jahren oder so und hatte miterlebt, wie sich sein Aussehen in dieser Zeit verändert hatte. Er war schon immer der schönste Mann im Raum gewesen, allerdings nicht auf eine supermaskuline Art und auch nicht auf diese Gefallener-Engel-Art wie Incy. Nur blond und mit feinen Zügen und Funkelaugen. Aber jetzt war er betäubt, der Mund hing offen und die Haare waren zerzaust, schmutzig und vom Angstschweiß durchtränkt. Er beugte sich weit vor, was seine Schultern bestimmt schmerzhaft überdehnte, weil seine Hände hinter dem Pfeiler zusammengekettet waren. Er leckte sich langsam über die Lippen und schien mit etwas zu ringen.
»Tu es nicht, Mann.« Die Worte waren kaum verständlich, als würde seine Stimme in seiner Kehle feststecken.
»Boz.« Mit bedauernder Miene kniete sich Incy neben ihn. »Es tut mir leid. Ich wollte eigentlich nur Nas, aber du bist mir in den Weg geraten.« Na toll. Das würde mich bis in alle Ewigkeit verfolgen. Auch wenn die nicht mehr lange dauerte. Sanft legte Incy die Hände um Boz' Gesicht und umrahmte es mit seinen Fingern.
»Gib mir deine Kraft, Boz, alter Kumpel«, flüsterte Incy. Boz kämpfte sich mühsam damit ab zu schlucken undmurmelte schwach: »F... fick ... dich.«
Incys Finger spannten sich straffer um sein Gesicht. »Gib mir deine Kraft.« Seine Stimme war tief und tödlich.
»Nein.« Ich sah zwar, wie Boz den Mund bewegte, konnte ihn aber nicht hören. Incy begann zu singen, anfangs nur langsam und leise, aber dann immer lauter und stärker. Ich verstand die Worte nicht, aber selbst aus drei Metern Entfernung konnte ich ihre Bösartigkeit, ihren Hass spüren.
Meine Haut kribbelte, als er die dunkle Magie herbeisang und sie durch die Bodenbretter hervorquoll wie Insekten, die von Aas angelockt werden. Sie sank durch die Löcher im Dach auf uns herab und auch durch die zerbrochenen Fenster krochen die dunklen Wolken des Bösen und der Verzweiflung zu uns herein wie kalter öliger Rauch.
Ein normaler Mensch hätte nichts davon gespürt. Aber bei mir hatten sich die Haare auf den Armen aufgestellt, und als mich die
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