Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
Vom Netzwerk:
das eben so wäre. Das hatte ich die letzten viereinhalb Jahrhunderte geglaubt. Aber jetzt, in meinem fortgeschrittenen Alter, klammerte ich mich an eine neue Wahrheit: dass wir uns entscheiden können, ob wir hell oder
    dunkel sein wollen, gut oder böse. Diese Wahrheit war so erstaunlich und eröffnete so viele Möglichkeiten. Ich hätte gern tagelang darüber nachgedacht, statt nur noch wenige Minuten bedauern zu können, dass ich so lange keine Ahnung davon gehabt hatte.
    Helgar hatte unsere Magie als schwarze Schlange beschrieben, die immer zusammengerollt in uns steckte. Wenn wir unsere Magie brauchten, öffneten wir den Mund und riefen die Schlange.
    Ich kannte nur ein paar einfache Beschwörungen und konnte mich nicht mehr an sie erinnern. Meine schwarzeSchlange schlief.
    Incy schloss den Zirkel, musterte mich eindringlich und kniete sich in die Mitte. Er legte die Hände über seine Augen und begann zu singen.
    Ich bin superstark. Ich habe genauso viel Power wie River. Ich öffnete den Mund.
    Das war mein ganzer Plan. Ich ließ meinen Blick verschwimmen und dachte an meine Kraft, an die kleinen Beschwörungen, die ich kannte, den Unterricht, den ich bekommen hatte. Ich dachte an meinen Mondstein underkannte beinahe erschrocken, dass er in meiner Hosentasche war. Ich hatte ihn aus alter Gewohnheit eingesteckt. Ich dachte an meinen Mondstein, wie sehr ich ihn liebte, wie sehr er sich anfühlte wie ein Teil von mir.
    Also gut, schwarze Schlange, dachte ich zum ersten Mal in meinem Leben. Jetzt rufe ich dich. Aber dann dachte ich, schwarze Schlange? Nee. Machen wir eine weiße Schlange draus. Nee, auch nicht. Es war meine Kraft und ich wollte, dass es ... eine Taube war, eine weiße Taube, verdammt noch mal! Okay, weiße Taube, weiße Taube, weiße Taube ...komm zu mir.
    Ich schloss die Augen und sah Reyns missmutiges Gesicht vor mir. Sei doch nicht so jämmerlich, schien er zu sagen. Nun ruf sie schon her! Hör endlich auf, dich immer darauf zu verlassen, dass andere alles für dich tun!
    Incy kreuzte jetzt die Hände vor seinem Mund. Der Ton seines Gesangs änderte sich. Die Luft wurde kälter und fühlte sich böser an. Wieder spürte ich, dass die dunkle Magie durch die Bodenbretter kroch wie eklige gepanzerte Insekten, dass sie durch die zerbrochenen Fenster hereinwehte und zusammen mit dem unschuldigen Mondlicht durch die Löcher im rostigen Blechdach fiel.
    Hvitur Dufa. Weiße Taube in der Sprache meiner Heimat, der Sprache meiner Eltern. Hvitur Dufa, komm zu mir. Würde es funktionieren, wenn ich sie nicht als schwarze Schlange rief? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur eins: Wenn ich mir vorstellen musste, dass meine Magie als eine schwarze Schlange aus meinem Mund kam, würde ich wieder anfangen zu kotzen.
    Hvitur Dufa ... komm zu mir.
    Meine Gedanken brachen ab, wie von einem Störsender unterbrochen. Incys Gesang wurde lauter. Was hatte ich getan? Wieso war mir so kalt? Überall war Dunkelheit, die wie Flammen auf mich zukroch und sich an den Rändern des Zirkels ausbreitete.
    Oh, Hvitur Dufa. Denk, Nas, lass dich nicht ablenken. Ich fing an, alles zu murmeln, was mir in den Kopf kam. Ich hoffte, dass es der Gesang war, mit dem ich in River's Edge meine Kraft gerufen hatte, aber ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung. Ich war vollkommen erledigt und meine mühsam zusammengeraffte Energie schwand zusehends.
    Ich hatte meinen Mondstein. Meine Mutter hatte auch einen Mondstein gehabt. Ich zwang mich, weiter Laute von mir zu geben und das Bild einer starken weißen Taube im Kopf zu behalten, aber die Vorstellung verblasste immer wieder und ich war den Tränen nah.
    Die schwarzen Finger der Dunkelheit kamen näher und näher. Schon bald würden sie meine Füße erreicht haben, an meinem Kopf, meinen Händen kratzen und sich unter meine Haut bohren. Schon bald würde ich sie in meinem Kopf spüren, wie sie sich in mein Gehirn gruben, sich in meine Gedanken zwängten, in meine Seele.
    Wieder sang ich, um die Kraft meiner Ahnen zu rufen. Ich ließ die körperlichen Schmerzen und meine Angst in den Hintergrund treten. Ich war die Kraft. Einatmen, zwei, drei, vier ... Hvitur Dufa ... meine Taube. Meine Taube. Meine weiße Taube der Macht. Mein Erbe, mein Geburtsrecht. Meine Mutter. Mein Vater. Island. Bildete ich mir das nur ein oder wurde mein Mondstein wärmer? Ich murmelte weiter, sang halblaut vor mich hin und behielt gleichzeitig Incy

Weitere Kostenlose Bücher