Ersehnt
werden.« Ich hatte nicht vorgehabt, das zu sagen, und es kam auch nur als Flüstern aus mir heraus. Noch am Morgen war ich leidlich zuversichtlich gewesen; jetzt würde es mich nicht wundern, wenn River mir einen Fußtritt verpasste und mir befahl, nie wieder herzukommen.
River schwieg einen Moment. »Das glaubst du nicht wirklich.« Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Innerlich wand ich mich wie eine Ameise unter dem Vergrößerungsglas.
»Ich glaube ... ich würde dir gern etwas zeigen«, sagte sie. Ich unterdrückte einen unglücklichen Seufzer. Hier kam eine weitere Lektion auf mich zugerauscht wie ein Güterzug. »Ich muss mein Bewusstsein mit deinem koppeln«, sagte sie und das weckte einen Funken Interesse in mir.
»Wieso?«
»Ich muss es dir zeigen - dir nur davon zu erzählen, wird nicht reichen.« Sie wartete auf meine Antwort.
Das konnte ich mir nicht entgehen lassen. Ich nickte. Wir fegten ein Stück vom Boden sauber und River formte aus dem Steinsalz, das wir gegen das Glatteis streuten, freihändig einen perfekten Kreis. Auf einem Bord stand eine alte grüne Kerze; River pustete den Staub von ihr ab und entzündete sie mit Magie. Ich nahm mir vor, einen der Lehrer zu fragen, ob er mir das beibringen konnte.
»Jetzt setzen wir uns so hin, dass sich unsere Knie berühren«, sagte sie. Genau wie in der Nacht, in der sie mir die schwarze Farbe aus den Haaren gezaubert und ich wieder ausgesehen hatte wie mein wahres Ich als Teenager. »Okay.«
»Dann rufen wir unsere Kraft, ich werde die Beschwörungs;formel aufsagen und meine Hände an dein Gesicht legen«, erklärte sie.
»Und mir das Gehirn durch die Augen aussaugen?« Ihre Mundwinkel verzogen sich nach oben. »Nein.
Versprochen.«
»Also gut.« Ich atmete tief aus, schloss die Augen und versuchte mich zu konzentrieren. Ich hörte River singen und nach einer Weile fiel ich in den Gesang ein. Ich atmete jetzt ganz tief, als würde ich Licht in verschiedenen Farben auf;saugen, das die Schwärze hinausdrängen sollte, die in mir lauerte und hervorbrechen wollte.
Wieder atmete ich ein, diesmal Heiterkeit und Schönheit, Frieden und Freude. Eine einzelne Träne rann aus meinem Auge, ausgelöst durch das Wunder der Magie, die mich - uns - so strahlend umgab. Die Magie erfüllte mich mit Stau;nen und ihr kristalliner Schein zog mich in seinen Bann. Und dann berührten Rivers kühle Finger mein Gesicht. Ich fragte mich, was sie mir wohl zeigen wollte, hatte im selben Moment aber auch den panischen Gedanken, dass diese mentale Verbindung möglicherweise in beide Richtungen funktionierte.Konnte sie meine abartigen und grotesken Gedanken lesen wie ich ihre?
»Nein«, sagte River und dann stand sie vor mir und streckte mir eine Hand entgegen. Ich sah mich um - es war Tag und wir waren irgendwo draußen. Es fühlte sich ein bisschen an wie ein Traum, aber trotzdem sehr real. Ich ergriff ihre Hand und es sah aus, als würden sich unsere Hände in weiter Ferne treffen.
»Ich gehe nicht in dein Bewusstsein, wenn du mich nicht dazu einlädst«, sagte sie im Gehen. »Und du weißt, wie du mich oder jeden anderen abblocken kannst, selbst wenn ich es versuchte.«
Ich war noch dabei, diese Bemerkung zu verdauen, als wir an ein hohes Gebäude aus Stein kamen, wie man es in alten europäischen Städten findet. Dieses hier sah ziemlich neu aus - es war nicht verwittert oder beschädigt. Die Steine waren glatt und präzise aufeinandergestapelt. Wir kamen auf einen Platz - eine Piazza -, denn wir waren in Italien, wie ich an den Stimmen der Menschen erkannte.
Eine Menge fremdländisch aussehender Leute in weißen Gewändern drängte sich um eine Plattform an einer Seite des Platzes. An mehreren Gebäuden wehten Flaggen mit verschiedenen Wappen. River und ich standen weit hinten in der Menschenmenge. Ich versuchte herauszufinden, was das Geschrei zu bedeuten hatte, aber ich verstand nur einzelne Worte und auch die nicht richtig.
»Wieso kann ich sie nicht verstehen?«, fragte ich River. »Ich spreche Italienisch.«
»Weil sie Mittel-Italienisch sprechen«, erklärte sie. »Das hier ist Genua im Jahr 912. Komm mit.«
Wir bewegten uns mühelos durch die Menge - es war nicht so, dass wir durch die Menschen hindurchgingen oder über sie hinwegschwebten, aber irgendwie schlängelten wir uns durch. Scharfe und starke Gerüche stiegen mir in die Nase. Die leuchtenden Farben, das
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