Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
Vom Netzwerk:
weitere neunzig Jahre bevor, in denen er miterleben musste, wie seine Nachkommen starben. Und dann waren da all die unsterblichen Kinder, für die er ein Leben lang Unterhalt zahlen musste. »Ich versuche, es zu verstehen «, sagte er noch einmal und lächelte mich höflich, aber abwesend an. Dann drehte er sich um und ging und einen Moment später hörte ich ihn wieder fegen.
    Ich kippte etwas Lederöl auf einen Lappen. Das war ... aufschlussreich gewesen. Also, für Lorenz natürlich eine echt blöde Situation, aber die Erkenntnis, dass ich doch nicht der schlechteste Mensch auf Erden war, war etwas, an das ich mich klammerte wie an ein Wrackteil der Titanic. Beinahe ein Grund, Freudentänze aufzuführen.
    Schon gut, keine Ahnung, wieso ich so mit Metaphern um mich werfe - aber was ich damit meine, ist wohl klar.Unglaublich. All diese Kinder. Die Halb-Sterblichen würden vermutlich recht lange leben - man liest oft in der Zeitung über sie, weil sie über hundert werden. Und Lorenz würde entweder so tun müssen, als würde er altern, damit er für sie normal wirkte, oder er musste sich von ihnen trennen und sie nie wieder sehen. Beides war ziemlicher Mist. Aber die Unsterblichen ... sie waren seine Kinder, aber eine echte Beziehung würde er vermutlich höchstens zu einer Handvoll von ihnen aufbauen. Oder doch zu allen? Keine Ahnung. Ewig zu leben bedeutete ja auch, dass er massenhaft Zeit hatte, jedes Einzelne kennenzulernen. Aber wie man es auch drehte und wendete, es blieb verrückt und zerstörerisch. »Oh, die Stallgasse sieht ja super aus«, hörte ich River sagen.Ihre Stiefel klackten über den Steinboden des Stalls. Ich begann, energisch zu putzen. Sattelzeug muss sauber sein, darf aber nicht zu sehr glänzen, denn Glanz bedeutet, dass es womöglich rutschig ist. Das ist aber das Letzte, was man brauchen kann, wenn man versucht, ein sechshundert Kilo schweres Tier zum Parieren zu bringen. Und manchmal bleibt einem nicht einmal die Zeit, sein Pferd zu satteln ... In den 1860er-Jahren war ich in England, in irgendeiner Kleinstadt im Norden. Ich glaube, ich wollte von dort aus den Zug nach London nehmen und musste einen oder zwei Tage warten. Wie hatte ich damals geheißen? So lange war das doch nicht her ... oder? England, England, nach dem Goldrausch in Amerika ... Rosemund? Rosemary. RosemaryMunson. Genau, Rosemary hieß ich damals. Und mein Gott - ich weiß sogar noch den Namen des Gasthofs, in dem ich untergekommen war. The Old Blue Ball Inn (das habe ich mir nicht ausgedacht).
    Auf jeden Fall bin ich mitten in der Nacht (solche Sachen passieren immer mitten in der Nacht) aufgewacht, weil draußen Leute herumschrien. Also sprang ich auf, riss das Fenster auf und hielt in der Dunkelheit Ausschau nach dem Feuer oder der angreifenden Armee oder dem ausgerissenen Zirkustiger. Aber ich sah gar nichts.
    Doch wenn überall Leute rennen und schreien, ignoriert man das besser nicht. Ich meine, man kann natürlich einen kühlen Kopf bewahren, während alle anderen ihren verlieren, aber herauszufinden, was diese panischen Schreie zu bedeuten haben, ist gewöhnlich eine gute Idee.
    Dann sah ich es. Es dauerte eine Weile, bis ich kapierte, was ich da eigentlich anstarrte, aber dann zählte ich zwei und zwei zusammen. Die Leute schrien: »Der Damm ist gebrochen! Der Damm ist gebrochen! Es kommt auf uns zu!«
    Und eine gewaltige graue Brühe stürzte ins Tal hinab, merk;würdig schnell, was bedeutete, dass wir alle sterben würden. Ich riss meine Jacke vom Haken und zog sie über mein Nachthemd. (Wir reden hier von der Viktorianischen Zeit, Spitze, etliche Meter Stoff, bodenlang und so weiter.) Ich raste nach unten, wo der Wirt und seine Frau alles, was ihnen in die Finger kam, in einen Kastenwagen warfen. Die Pferde wieherten und stiegen und hätten den Wagen beinahe umgeworfen.
    Es herrschte ein unglaubliches Durcheinander. Ich weiß noch, dass es kalt war und ich keine Schuhe trug. Ich rannte barfuß in den Stall, wo ungefähr acht Pferde in ihrer Panik versuchten, die Boxenwände zu zerschlagen. Im Bruchteil einer Sekunde suchte ich mir das Pferd aus, das mich ver;mutlich nicht sofort töten würde, und öffnete seine Stalltür. Es war eine Stute, ein sehr schöner Apfelschimmel. Ich hatte keine Ahnung, wem sie gehörte. Sie stieg und schlug hinten aus und ich sah mich nach einem Sattel um. Aber die Leute nahmen ihre Sättel gewöhnlich mit ins

Weitere Kostenlose Bücher