Ersehnt
okay. Wir hatten seit unserem Winter-Wunderland-Er— lebnis kein Wort mehr gewechselt. Ich musste es nur schaffen, dem frischen Wäscheduft seines Hemds auszuweichen - standen die Chancen recht gut, dass ich mich nicht sofort auf ihn stürzte und ihn gleich hier auf dem Küchen— tresen vernaschte.
»Hier.« Jess stellte einen Korb mit (zum Glück) schon ge— putzten Rüben, Möhren und Kartoffeln auf den Küchentisch. Stunden zuvor hatte er einen großen Braten in den Ofen ge— schoben, der die Küche mit seinem Duft erfüllte.
»Willst du kleine Würfel oder große Stücke?«, fragte ich. »Große Stücke. Ich will das Gemüse mitschmoren«, sagte er und öffnete eine Weinflasche. Ohne zu fragen, schenkte er ein Weinglas halb voll und stellte es mir hin. Hier trank nie— man viel und ich wusste, dass einige von uns, wie zum Beispiel Jess, mit massiven Suchtproblemen zu kämpfen gehabt hatten.
Aber einem geschenkten Glas Wein schaut man nicht ins Maul. Ich nahm es schnell in die Hand und inhalierte den Duft. Dann nippte ich daran und behielt den Wein im Mund. Wundervoll, absolut wundervoll. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie oft ich in der Vergangenheit schon eine halbe Flasche auf einmal runtergekippt hatte.
Jess goss fast den ganzen Rest der Flasche in den Bräter. Der Bratenduft verteilte sich in der Küche und mir knurrte der Magen.
Während ich an einem Ende des Tisches hackte und schnitt, beschäftigte sich Mr Sunshine am anderen Ende. Er bestäubte die Arbeitsplatte mit Mehl, holte eine Plastikschüssel mit aufgegangenem Teig heraus und formte daraus Brötchen fürs Abendessen, als wäre ich gar nicht da.
Einen Teil von Rivers Vergangenheit zu sehen, war merkwürdig und irgendwie verstörend gewesen. Sie hatte erwähnt, dass sie früher mal auf der dunklen Seite gestanden hatte. Ich schätze, ich hatte das nicht wirklich geglaubt, denn jetzt war sie einfach nur umwerfend gut. Ich runzelte die Stirn und schnitt die Enden der Möhren ab. Wenn sie genauso missraten und grässlich war wie ich, wieso sollte ich dann irgendwas von dem glauben, was sie sagte? Konnte man all das wirklich überwinden und ein ganz neuer, besserer Mensch werden?
Und dann war da Lorenz' schockierendes Geständnis, dass es es eine Million kleiner Lorenze gab. Das war echt schräg. Und Jess hier war ein totales Wrack. Reyn verkörperte durch und durch Schuld, wie jemand, der unter seiner Vergangenheit litt und nie richtig darüber hinwegkam. Warum ver;suchten wir alle es überhaupt? Ich hoffte dauernd, dass ich mit diesen Flashbacks aus meiner Vergangenheit fertig war, und prompt passierte etwas, das alles wieder hochkommen ließ - wie bei einer Katze, die Gras gefressen hat.
Meine Vergangenheit stand mitten auf der Straße, schwenkte die Arme und schrie: »Sieh mich an!« Aber wieso? Welche Rolle spielte irgendwas davon jetzt noch?
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Reyns starke sehnige Unterarme, wie sie den Teig kneteten und die Brötchen formten. Ich versuchte, die Vorstellung zu verscheuchen, wie er stattdessen mich durchknetete.
»Hallo, allerseits«, sagte Anne und stieß die Küchentür auf. Das feine schwarze Haar wippte ihr um die Wangen und sie schob die Ärmel ihres grünen Pullovers bis zu den Ellbogen hoch. »Ich decke den Tisch, und zwar heute für dreizehn, denn ... «
DieSchwingtür wurde erneut aufgestoßen und Anne machte eine triumphierende Geste. »Meine Schwester ist da! Leute, das ist Amy. Amy, das sind Jess, Reyn und Nastasja.« »Hi«, sagte Amy lächelnd. Sie sah aus wie eine Light-Version von Anne, mit etwas jüngerem Gesicht und längeren, etwas helleren Haaren, die ihr über die Schultern hingen.
Insgesamt sah sie weniger zurechtgemacht aus. Anne war Lehrerin; Amy wirkte wie eine Schülerin.
Ich erkannte, dass sie wirklich hübsch war, auf eine frische, ungeschminkte Art. Wieso können manche Frauen auf Make-up verzichten und frisch und perfekt aussehen? Wenn ich darauf verzichtete, sah ich aus wie einbalsamiert. »Wow, das duftet ja toll hier!«, sagte Amy und nahm den Stapel Teller entgegen, den Anne ihr hinhielt.
»Ja, wir sind die Besten«, sagte ich und nippte an meinem Wein. Er hinterließ eine warme Spur in meiner Kehle und ich widerstand der Versuchung, den Rest gleich hinterherzukippen.
Amy lächelte und dann durfte ich miterleben, wie sie Reyn ansah und alles plötzlich wie in Zeitlupe ablief.
Ihre Augen wurden riesengroß. Ihr
Weitere Kostenlose Bücher