Ersehnt
vorbei war und er die Beschwörung wieder aufgehoben hatte, fragte ich ihn: »Fühlst du dich jetzt irgendwie anders?«
Jess dachte einen Moment darüber nach und fuhr sich dabei mit der Hand über seine grauen Bartstoppeln. Obwohl er noch ziemlich jung war, sah er aus wie mindestens tausend. Ob es an seinem ausschweifenden Leben lag, dass er so früh gealtert war? Ich wusste es nicht.
Dann war ich an der Reihe. Da ich es gerade bei Jess gesehen hatte, war es ein Kinderspiel. Zuerst schrieb ich die Sigils der Beschränkung in die Luft: Ich beschwor mich allein als Empfänger und verlangte eine milde Wirkung, die dauerhaft anhalten sollte, bis ich die Beschwörung irgendwann in der Zukunft mit einem weiteren Zauber beendete. Die Beschränkung der Wirkung sollte dafür sorgen, dass nur meine Widerstandskraft gegen Krankheitserreger wuchs, sich aber
sonst nichts änderte - ich also nicht plötzlich Augen wie ein Adler hatte oder so was in der Art. Als alle Beschränkungen ausgesprochen waren - ich warf Solis einen kurzen Blick zu, ob ich womöglich etwas vergessen hatte -, begann ich, meine Magie zu rufen. Mit meinem Mondstein in der Hand (Jess hatte seinen Topas benutzt) sang ich mein Lied, erst nur leise, aber schon bald mit mehr Selbstvertrauen.
Ich konnte beinahe spüren, wie die Beschwörung Form annahm, ähnlich einem Bauwerk. Im Geist ging ich die einzelnen Stufen durch: Es fühlte sich gut und komplett und fast elegant an, wie ein Gemälde, bei dem jeder Farbklecks an der richtigen Stelle sitzt. Ich war zufrieden mit mir, weil es bewies, dass ich tatsächlich etwas lernte.
Ich war tief in meiner Magie versunken. Ich hatte die Augen geschlossen und war zentriert und glücklich. Meine Magie umgab mich wie der schwere Duft von Lilien. Kein Geräusch drang zu mir durch; ich nahm nichts wahr außer mich selbst und meiner Kraft, die mich durchdrang und um mich herum schimmerte. Hatte meine Mutter auch auf diese Weise gezaubert? Ich weiß noch, wie sie unseren Garten besungen hat, erinnere mich an ihren leisen Gesang, als eine unserer Stuten fohlte. Auf diese Weise fühlte ich mich mit ihr ver;bunden. Ich gratulierte mir selbst zu meiner Meisterleistung - das Einzige, was diese Woche tatsächlich gut gewesen war -, bis es plötzlich auf Platz eins der »Nicht gut«-Liste katapultiert wurde.
Solis schrie auf, meine Augen öffneten sich und dann knallte mir etwas an den Hinterkopf. Mein Kopf wurde nach vorn geschleudert und ich brüllte etwas, das im Fernsehen durch ein lang gezogenes »Bieeep« ersetzt worden wäre. »Was hast du getan?«, schrie Solis mich an und ging hinter einem Stuhl in Deckung.
Die Luft war voller ... fliegender Bücher. Keine niedlichen kleinen Bücher mit Flügelchen, die herumsausten wie der Goldene Schnatz, sondern teuflische, besessene Bücher, die sich auf uns stürzten und Blut sehen wollten.
»Nichts!«, schrie ich zurück und wich einem und dann noch einem Buch aus. Ein drittes erwischte mich an derSchulter. Es fühlte sich an wie ein Ziegelstein. »Verdammte Scheiße!«
Überall rumste und knallte es, als die - zum Teil besonders großen und dicken - Bücher aufschlugen. Eins traf Jess in die Seite und er fluchte laut und krabbelte zum Schreibtisch, um sich dahinter zu verstecken. Ich hatte keine Zeit, meine Be;schwörung aufzuheben - ich schützte meinen Kopf mit einem Arm und rutschte zum Schreibtisch, um neben Jess in Deckung zu gehen.
Weitere Bücher segelten an mir vorbei und rissen alles herunter, was nicht irgendwie festgenagelt war - Kristallkugeln zerplatzten auf dem Boden, ein gläsernes Tintenfass ver;spritzte dunkelrote Tinte auf dem antiken Teppich, leere Teetassen, Pergamente, Kristalle und Minerale wurden von den Oberflächen gefegt. Ein kleines Gefäß mit pulverisiertem Kupfer platzte auf und der Tintenfleck auf dem Teppich wurde mit schimmerndem Glitter bestäubt. Andere Bücher griffen das Fenster an und zerbrachen es mit einem gewaltigen Krachen. Wieder andere flogen in den Kamin und fingen Feuer.
»Mach dem ein Ende!«, schrie Solis mir zu.
»Ich weiß nicht, wie!«, brüllte ich zurück und blieb unter dem Schreibtisch hocken. Bücher glitten von der Platte herunter und prasselten auf Jess, der wieder anfing zu fluchen. »Ich weiß nicht, was hier passiert! Du bist der Experte! Mach du, dass das aufhört!«
Solis stieß bereits Beschwörungen aus und seine Finger zeichneten Sigils und Runen
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