Ersehnt
mich, wohin ich auch ging. Jedes Mal, wenn ich mich im Spiegel sah, erinnerte mich mein geschwol— lenes Auge daran, dass ich nicht einmal fähig war, eine einfache Beschwörungsformel hinzukriegen.
Als Reyn mich sah, hoben sich seine Brauen. »Und wie sieht der andere Kerl aus?«
Ich wollte etwas Witziges, Tapferes und Lockeres antworten, aber mir fiel beim besten Willen nichts ein. Ich fühlte mich irgendwie benommen, als würde ich nicht genug schlafen. Aber ich war doch immer um halb zehn im Bett, nur damit diese grässlichen Tage früher zu Ende waren. Ich hatte keine anderen Symptome außer Lustlosigkeit, dieser Benommenheit und dem Wunsch, den ganzen Tag, jeden Tag, im Bett zu verbringen.
Ich ging zum Unterricht, weigerte mich aber, an irgendwelchen Zaubern teilzunehmen. Bezeichnenderweise drängte mich auch keiner dazu. Ich erledigte meine Pflichten.
An einem Abend waren Reyn, Brynne und ich das Kochteam. Ich empfand das Zusammensein mit Reyn beruhigend, aber auch stressig. Insgesamt war es einfach anstrengend. Bei meinem Versuch, ihn zu sehen, wie er jetzt war, bemerkte ich natürlich auch, wie die anderen mit ihm umgingen.
Ich stellte erstaunt fest, dass alle anderen ihn zu mögen schienen und gern in seiner Nähe waren. Das war mir bisher nie aufgefallen. Auf den ersten Blick wirkte er herrisch und grob, mürrisch und humorlos. Aber jetzt erkannte ich, dass er nur still war. Zurückgezogen. Er kämpfte in aller Stille gegen seine inneren Dämonen. Ich wusste immer noch nicht, wieso genau er eigentlich hier war. Was hatte ihn nach River's Edge geführt? Wie lange war er schon da? Was erhoffte er sich davon?
»Oh! Dreh das Lied lauter«, verlangte Brynne und zeigte auf das kleine altmodische Radio, das auf dem Küchenregal stand. Ich drehte die Lautstärke auf und Brynne fing an, beim Knoblauchhacken zu tanzen. Sie schien den Text jedes einzelnen Liedes im Radio zu kennen, was mir nur wieder bewusst machte, wie blind ich durchs Leben lief, wie wenig Aufmerksamkeit ich solchen Dingen schenkte.
»Baby, you know you got it going on«, sang Brynne und hackte im Takt.
Ich lächelte, und als ich aufschaute, lächelte Reyn ebenfalls. Unsere Blicke trafen sich und wir verloren uns einen Moment lang darin; dann machte ich mich wieder an die Arbeit.
Ein paar Minuten später kam Amy herein und hockte sich mädchenhaft auf einen Stuhl neben Reyn, der Würstchen für den Grill vorbereitete. »Kann ich helfen? «, fragte sie. Reyn schüttelte den Kopf. »Du bist unser Gast.«
Ich rührte die Zwiebeln und den Knoblauch um, die ich anbriet. Ich wünschte, nur Reyn und ich wären in derKüche.
»Nastasja?«
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Amy mit mir sprach. Ich drehte mich zu ihr um.
»Bist du zum ersten Mal hier?«, fragte sie. »Ich war vor zehn Jahren zuletzt da, als hier noch eine ganz andere Truppe lebte. Aber die meisten Leute kommen immer mal wieder her.«
»Nein, für mich ist es das erste Mal«, sagte ich. »Besuchst du Anne oft?« Es wurde Zeit, die guten alten Small-Talk;Fähigkeiten mal wieder etwas zu entstauben. Eigentlich war Amy ganz nett. Es war nicht ihre Schuld, dass sie in den Bann unseres Goldjungen gezogen worden war. Wahrscheinlich passierte das so ziemlich jeder Frau.
Amy lächelte. »Ich komme nicht so oft her, aber ich habe Anne vor drei Jahren das letzte Mal gesehen. Unsere Familie trifft sich alle paar Jahre irgendwo und dann verbringen wir ein paar Wochen miteinander und reden. Beim letzten Mal waren wir auf Prince Edward Island. Es ist wunderschön dort.«
»Deine ganze Familie trifft sich?« Ich sah die Verblüffung in Reyns Gesicht, obwohl er seine Emotionen gut versteckt hielt.
»Ja.« Amy angelte sich ein Salatblatt aus der Schüssel und aß es aus den Fingern.
»Das macht meine Familie auch«, sagte Brynne. »Alle vier oder fünf Jahre. Meine Eltern, all meine Geschwister und ein paar von ihren Kindern.«
»Ist das nicht toll?«, begeisterte sich Amy. »Ich meine, es ist immer total verrückt und hektisch, aber doch toll, alle wiederzusehen. «
Ich warf Reyn noch einen Blick zu und musste feststellen, dass er mich ansah. Wir wussten, was der andere dachte: Dass wir beide Waisen waren. Unsere Familien hatten einander ausgelöscht. Er schüttelte den Kopf, als fände er diesen Gedanken genauso abwegig wie ich.
»Was ist mit dir, Reyn?«, fragte Amy. »Gibt es bei euch auch Familientreffen? «
»Nein«,
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